Jürgen Klute: Emmanuel Todd: Wer ist Charlie?

Paris, Brüssel und jetzt auch noch Nizza. Die Reihe blutiger Attentate im Namen Allahs scheint nicht enden zu wollen.

Allerdings konzentrieren sich die Attentate auf Frankreich. Der Anschlag in Brüssel im März 2016 sollte eigentlich auch in Frankreich erfolgen, aber unter dem hohen Fahndungsdruck, der seit dem Pariser Anschlag vom November 2015 in Belgien herrscht, wurde er in Brüssel verübt. So berichteten einige Medien.
Obgleich alle Attentäter in Frankreich bzw. Belgien geboren wurden und auch dort aufgewachsen sind, gilt der Islamische (Terror)Staat als verantwortlich für diese Anschläge.


Der erste dieser Anschläge, der blutige Angriff auf die Redaktion der Pariser Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015, hat unter dem Motto „Je suis Charlie“ – „Ich bin Charlie“ – zu einer beispiellosen Solidaritätsaktion in Europa geführt.
Aber: „Wer ist Charlie?“ Auf diese Frage versucht der französisches Soziologe und Intellektuelle Emmanuel Todd in seinem gleichnamigen Buch eine Antwort zu geben.
Wie der Titel schon andeutet, geht es Todd weniger um die Attentäter, sondern um die politischen Prozesse innerhalb der französischen Gesellschaft in den letzten Jahren und um die Frage, welche Rolle die Reaktionen auf das Attentat in diesen Entwicklungen spielt.
Für Todd ist die Solidarität nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo keinesfalls eine Solidarität, die die gesamte französische Gesellschaft umfasst. Vielmehr hat sich hier ein bestimmter Teil der französischen Gesellschaft „verbrüdert“. Und zwar zulasten vor allem der muslimischen Migranten.

Die Gruppe, die sich „verbrüdert“ hat besteht nach Todd vor allem aus älteren Menschen, die sich im Laufe ihres Arbeitslebens einen beachtlichen Wohlstand erarbeitet haben und diesen Besitzstand jetzt vehement verteidigen. Mit anderen Worten: der wohl situierte Mittelstand.

Die ideologische Grenzziehung dieser Gruppe erfolgt mittels des Slogan „Ich bin Charlie“, der vermeintlich Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Säkularität bzw. Laiizität und das Recht auf Satire und Blasphemie verteidigt. Wer zur französischen Gesellschaft gehören will, der muss sich zu diesen Rechten bekennen. Nur, so Todd, das aus dem Recht auf Satire und Blasphemie als Ausdrucksformen von Meinungs- und Pressefreiheit im Zuge der Solidaritätsmanifestationen mit Charlie Hebdo und mittels der Übernahme des Slogans „Je suis Charlie“ eine Pflicht zur Blasphemie konstruiert wurde.

Dieser wohl situierte Mittelstandsblock sieht sich damit in der Tradition des französischen Laiizismus und als dessen Verteidigerin. Gegenüber den muslimischen Migranten und Migrantinnen wirkt dieser Laiizismus allerdings als zusätzliches Ausgrenzungsinstrument, dass die längst bestehende wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung noch einmal verstärkt und festschreibt. Der Schritt zum Antiislamismus des Front National ist dann kein allzu großer mehr. Und im Schatten des Antiislamismus sieht Todd auch erneut einen Antisemitismus aufkeimen.

Eine Ursache für diese Entwicklung sieht Todd darin, dass die katholische Kirche in Frankreich nahezu bedeutungslos geworden ist. Der Laiizismus in Frankreich, der seinen Ursprung in der Auseinandersetzung mit einer übermächtigen katholischen Kirche und deren Zurückweisung hatte, hat mit dem Bedeutungsverlust der katholischen Kirche sein Objekt verloren. Geblieben ist aber sowohl der laiizistische Habitus als auch bestimmte hierarchische Formen in den ehemals stark katholisch geprägten Regionen Frankreichs. Die daraus entstandene Gemengelage bezeichnet Todd als „Zombie-Katholizismus“, der wiederum für den zuvor skizzierten wohl situierten Mittelstandsblock charakteristisch ist. In gewisser Weise, so Todd, hat der Islam die Rolle der mittlerweile in Frankreich in der Bedeutungslosigkeit verschwundenen katholischen Kirche eingenommen. Statt an der einst gesellschaftlich dominanten katholischen Kirche arbeitet sich der Laiizismus heute am Islam ab, an der Religion einer marginalisierten, sozial weitgehend ausgegrenzten und in die Banlieues abschobenen gesellschaftlichen Minderheit.

Gesellschaftliche Verwerfungen, die mittlerweile auch die französische Gesellschaft durchziehen, werden durch die nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo bekundete Verteidigung von Freiheitsrechten nicht aufgearbeitet. Sie werden vielmehr verdeckt und vertieft durch die gezeigte Art des Protestes gegen die Anschläge auf Charlie Hebdo.
Beachtenswert ist die Rolle, die Todd dem Laiizismus in diesem Ausgrenzungsprozess zuspricht. Besonders aus linker Sicht erscheint es dringend nötig, sich mit diesem Aspekt genauer und intensiver auseinander zusetzen. Denn auch der Front National begründet seine Antiislamische Position mit dem Bezug auf den französischen Laiizismus.
Todd macht in seinem Buch deutlich, dass einst progressive, linke Forderungen und Positionen unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Bedeutungsverschiebungen erfahren, die ihnen ihren einst progressiven und linken Charakter entziehen. Für die Linke ist das eine mitunter provokante Herausforderung. Ignorieren kann die Linke diese gesellschaftlichen Veränderungen nur um den Preis, selbst in die Bedeutungslosigkeit zu entschwinden.

Deshalb lohnt es sich, dieses Buch von Todd zu lesen. Es umfasst weit mehr als den hier herausgestellten Kernaspekt. Todds Buch liefert zudem umfassende Hintergrundinformationen zur Entwicklung des Front National, der Sozialistischen Partei und der französischen Linken und sowie der Wechselwirkungen der Entwicklungen dieser einzelnen gesellschaftlichen Elemente. Insgesamt entsteht so ein sehr differenziertes und ausgesprochen spannendes Bild der gegenwärtigen französischen Gesellschaft einschließlich deren Einbettung in die EU, auf die Todd ebenfalls immer wieder kritisch Bezug nimmt. Deutlich wird auf diese Weise, dass die Ursachen für die Anschläge von Paris, Brüssel, Nizza nicht zuletzt vor Ort, das heißt, in Frankreich, in Belgien, in der deutschen Export- und Austeritätspolitik mit ihren desaströsen sozialen Folgen, die Berlin den EU-Nachbarländer unbedingt aufzwingen will. Todd schlägt auch diesen Bogen.
Seit 1984 arbeitet Emmanuel Todd am Institut national d’études démographiques, also am demographischen Institut in Paris. In seinem Buch schlägt sich das in der Form nieder, dass er seine Analysen und Ableitungen mit umfangreichen statistischen Daten untermauern kann.

Emmanuel Todd: Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens. Verlag C. H. Beck, München 2016. 236 Seiten. [14,95 Euro]

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