«Durch Jahrtausende geht der Schrei nach Menschlichkeit, Gerechtigkeit»

1 von Claus Bernet

Der Gerechtigkeitsbegriff in den exegetischen Arbeiten von Emil Fuchs während der Nazidiktatur

Im folgenden Beitrag haben wir es zunächst mit vier Texten von Emil Fuchs zu tun, die zwischen 1933 und 1938 entstanden sind, und zwar mit seiner Auslegung des Matthäusevangeliums (1933–35), dem Brief des Paulus an die Römer (1936–37), der Auslegung des Markusevangeliums (erste Jahreshälfte 1938) sowie der Offenbarung des Johannes (der Apokalypse, zweite Jahreshälfte 1938).

Die hier zur Diskussion stehenden Schriften wurden von Emil Fuchs unter schwierigen Bedingungen vervielfältigt und an den engeren Freundeskreis der Quäker und Religiösen Sozialisten verschickt, um diesen in schwerer Zeit zu stärken und zusammenzuhalten. Bis vor Kurzem waren diese vier Texte, wenn überhaupt, nur sehr wenigen WissenschaftlerInnen bekannt; aus ihnen zitiert wurde, so weit ich sehe, überhaupt nicht. Alle vier Texte wurden zwischen 2012 und 2016 in Buchform vorgelegt.

Wir wollen uns nun genau ansehen, wie in diesen vier Texten Gerechtigkeit verstanden wird. Dabei soll hier nicht abstrakt-allgemein über Gerechtigkeit bei Fuchs gesprochen werden, sondern wir wollen wollen uns – ad fontes – eng an Zitate halten und vor allem erst einmal die genannten vier Texte auswerten. Allein durch die druckgrafische Hervorhebung des Begriffes Gerechtigkeit in diesem Beitrag kann ermessen werden, welche zentrale Stelle diese Kategorie im Denken von Fuchs einnimmt. Natürlich wäre es erfreulich und äußerst hilfreich gewesen, hätte der Verfasser selbst einmal eine eigene oder eine entlehnte Definition von Gerechtigkeit gegeben – er hat es nicht getan und vielleicht ist es auch gar nicht notwendig; vielleicht kann es zu einem solchen Begriff auch nur Annäherungen geben, Zwischenergebnisse, Vorläufiges, Fragmentarisches.

Schauen wir auf die Römerbriefauslegung, die uns entscheidende Hinweise zum Gerechtigkeitsbegriff nach Emil Fuchs gibt:

«Es gibt keine Kultur, es sei denn, sie bricht hervor aus einer gewaltigen Erschütterung jener Tiefen des Seelenlebens, die nur von solch einer Botschaft zu erreichen und zu bewegen sind. Nur wo Menschen, wo eine Gesellschaft in diesen Tiefen erschüttert und aufgewühlt sind, werden ihr jene schöpferischen Kräfte geschenkt, die neue Gemeinschaft gestalten, neue Formen des geistigen Lebens gestalten, neue tiefere Wahrheitserkenntnis und Wahrhaftigkeit der Geistes- und Lebenshaltung gestalten und damit neue Wissenschaft und Kunst, neue Formen des Arbeitslebens und der Gerechtigkeit gestalten» (Fuchs 1936–37/2015b: 1).

Das erste, was sogleich jedem Lesenden auffällt, ist also ein Defizit. Gerechtigkeit ist nicht, es ist ein Zukünftiges, ein noch Werdendes. Oder, anders gesehen, zur Zeit Jesu war Gerechtigkeit genauso wenig verwirklicht wie heute, es war eine Hoffnung auf die Zukunft hin: «Aber darauf kommt es an, wenn man die ganze Bedeutung dieses Briefes [des Römerbriefs, C.B.] erkennen will, zu sehen, dass dieser Brief, in dem wirklich allem Kulturprotestantismus und aller Kulturreligion abgesagt ist, gerade deshalb ein Zeugnis jener Kraft ist, aus der allein Kultur in Wahrheit und Gerechtigkeit werden kann und sich erhalten kann.» (Fuchs 2015b, S. 1 f.)

«Wahrheit und Gerechtigkeit» – eine Formel, die Emil Fuchs häufiger verwendet (vor allem in seiner Auslegung der Offenbarung des Johannes; Fuchs 1938/2016b: 39, 50, 62 f.,91, dort spricht er auch von «Lüge und Ungerechtigkeit»; ebd.: 39). Ist es lediglich eine Wiederholung, ist also in Wahrheit immer schon Gerechtigkeit enthalten, und ist in Gerechtigkeit nicht immer auch Wahrheit enthalten? Oder sind es nicht vielmehr zwei Komponenten, unterschiedlich in Sinn und Bedeutung, die beide benötigt werden, um das Zukünftige inhaltlich zu umreißen, es verständlich zu machen, es vom Gegenwärtigen zu unterscheiden? Ich denke, Letzteres ist der Fall.

Ein Weiteres soll uns noch deutlich werden, das entscheidend ist für das gesamte Denken von Emil Fuchs: Herstellbar ist eine Gesellschaft in Wahrheit und Gerechtigkeit allein aus eigener Kraft letztlich nicht. Es muss noch etwas Zweites dazukommen, das Hereinbrechen einer göttlichen Kraft, das Offenbarwerden einer neuen Schöpfung, das Kommen des Transzendenten. TheologInnen haben es als Parusie bezeichnet, Emil Fuchs nennt es häufig «Ruf». Paulus hat es erlebt:

«Diesen Gedanken, dass das Evangelium Kraft ist, dürfen wir nie aus dem Auge lassen, wenn wir Paulus und mit ihm die erste Christenheit recht verstehen wollen. […]. Diese erneuernde Macht der frohen Botschaft ist auch dem Paulus gegeben. Auch durch ihn erfahren Menschen Rettung – Rettung aus dieser vergehenden Welt hin zu dem, was kommt. Dies Kommende wird ihnen heute schon Lebenskraft und Lebensaufgabe. Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart. Wieder dürfen wir nicht vergessen, dass im Neuen Testament das Wort ‹offenbaren› nicht nur einen Akt des Erkennens, sondern ein Hervortreten meint. Aus der Verborgenheit Gottes tritt etwas hervor und wird uns in dieser Welt eine machtvolle Wirklichkeit. So wird denen, die des Apostels frohe Botschaft trifft, die Gerechtigkeit Gottes machtvolle Wirklichkeit im eigenen Leben und Wirken» (Fuchs 1936–37/2015b: 21 f.).

Hier ist es unmissverständlich ausgesprochen: Die «Gerechtigkeit Gottes» – erst sie ist (1) für die Menschen erkennbar («offenbart») und (2) schafft erst sie eine neue Wirklichkeit. Beides ist, nach Emil Fuchs, ein miteinander verbundener Prozess, da ja «offenbaren» hier auch gestalten, verändern, wirken meint.2

Kommen wir nun zu einer für Fuchs (bezüglich Gerechtigkeit) zentralen Textstelle, nämlich zu dem 17. Vers des ersten Kapitels des Römerbriefs: «Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart aus Treue zu Treue. Es steht ja geschrieben: Der Gerechte aus Treue wird leben» (ebd.: 21). Luther übersetzte hier bekanntlich: «die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben […] Der Gerechte wird seines Glaubens leben» (ebd.: 22). Ein wesentlicher, ein fundamentaler Unterschied: hier, bei Fuchs, die Gerechtigkeit Gottes, die sich in Geschichte, Kultur, im sozialen Zusammenleben offenbart. Dort, bei Luther, die menschliche Gerechtigkeit, die ihre göttliche Legitimität dadurch erhält, dass sie eben vor Gott «gilt» – aber nicht von Gott ist. Im zweiten Halbsatz sprechen beide vom Gerechten. Bei Fuchs lebt dieser Gerechte aus der Treue zu Gott. Bei Luther lebt der Gerechte aus seinem Glauben – zwei ganz wesentliche Unterschiede, die in ganz verschiedene Theologien führen.

Gerechte, die aus Glauben leben – hier haben wir das Luthertum.

Gerechte, die treu zu Gott stehen – hier haben wir das Quäkertum.

Fuchs führt diesen Unterschied selbstverständlich weiter aus: «‹Gerechtigkeit Gottes› ist Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht Leben schaffende heutige Mächtigkeit, sondern ein Urteil Gottes über den Menschen. Wo ich ‹Treue› übersetze, übersetzt Luther ‹Glaube›. Es ist ganz deutlich, wie viel unwirklicher das alles ist gegenüber dem, was Paulus meint und sagt. Diese Unwirklichkeit ist bedingt durch die Unklarheit in Luthers Begriff ‹Glauben› […] Immer wieder ist Luther auch gefesselt von jener Vorstellung, dass der Mensch nur ganz von Ferne etwas von der Gnade Gottes haben, erkennen, ‹glauben› kann.» (Ebd.: 22)

Erstaunlich ist nun die Fortsetzung dieses Gedankens bei Emil Fuchs. Zunächst ist zu konstatieren, dass es gerade die Sünder sind, die von der Gerechtigkeit ergriffen sind: «Die geistige, unvergängliche Gerechtigkeit kann nicht im äußerlichen Sieg, sondern nur im Aufzeigen ihrer inneren, duldenden Macht den Menschen deutlich gemacht werden. Erst müssen diese Sündigenden von der Macht seines Wesens ergriffen sein – ohne den äußeren Sieg zu schauen –, dann kann der Sieg werden» (Fuchs 1938/2015a: 100). Doch dabei bleibt Fuchs nicht stehen. Durchaus könne es sein, dass Menschen vom Willen Gottes erfasst sind, ohne überhaupt von der Existenz Gottes zu wissen:

«Die Tragweite dieser Gedanken ist ungeheuer. Es gibt also ein Erfasstsein vom Willen Gottes – ein Tun dieses Willens – bei denen, die nicht irgendwie wissen, dass dies die Gottheit und ihr Wille ist. Es gibt ein Tun des göttlichen Willens vor allem Hören des göttlichen Willens aus menschlichem ‹Gesetz›. Wo aber dies Tun ist, da ist Gerechtigkeit. Wo es nicht ist, ist alles Besitzen von Gesetz und Gottesoffenbarung umsonst. Es gibt Menschen, die von den Frommen als ‹Gottlose› deklariert werden, die im Ringen um Gerechtigkeit, Wahrheit und Brüderlichkeit stehen. Sie sind gerecht vor Gott, obwohl sie sich vielleicht selbst für gottlos halten.» (Fuchs 1936–37/2015b: 36)

Der biografische Hintergrund ist der Verband der kämpfenden Gottlosen, ein von 1929 bis 1947 in der Sowjetunion existierender atheistischer Verein: «Denn nicht die sind die ‹Gottlosen», die man in der Gottlosenbewegung bekämpft und unter denen viele sind, deren Seele sich nach Gerechtigkeit sehnte» (Fuchs 1933–35/2012: 72).

Ein Zwischenergebnis: Gerecht macht die Menschen nicht das Tun ihres eigenen Willens, und wenn es im besten Willen geschähe. Gerecht macht auch nicht das Tun eines angenommenen oder tatsächlichen göttlichen Willens – vielmehr ist es umgekehrt: Das Hereinbrechen des Göttlichen schafft den Gerechten und macht sein Tun gerecht. Und um das Tun geht es. Denn nach Fuchs führt Treue in ein aktives Leben, in gestalterisches Handeln, während die ältere Übersetzung mit «Glaube» mehr eine innere Haltung umreist, im besten Fall zu Volksfrömmigkeit führt, im schlechtesten zu Stagnation und Passivität. Glaube ist ihm Fürwahrhalten der Verheißung, was sicher auch Treue beinhalten kann, aber weit darüber hinausgeht und sich in Handlung manifestiert – selbstverständlich nicht in irgendeiner Handlung, sondern in gerechter:

«Diese Treue, die zugleich Vertrauen zu dem Sein und Werk ist, das Gott in ihm angefangen hat, wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Aber es ist nun wohl klar, dass dies kein bloßes ‹Fürwahrhalten› der Verheißung ist, sondern ein aktives, lebensgestaltendes Mächtiges, das in ihm wirkt. Solch Vertrauen, solche Treue ist eben werdende Gerechtigkeit, die als volle Gerechtigkeit vor Gott steht. Dies ist das schaffende Leben Gottes, das er uns weckte und in dem und durch das er uns zu dem Ziele führt, das er uns bestimmt hat. Wo diese Treue ist, da sind wir in dem Schöpfungsprozess seines Geistes als begnadete Menschen» (Fuchs 1936–37/2015b: 66).

Und es geht noch weiter: Fuchs bleibt selbstverständlich nicht beim Einzelnen stehen, sondern ihn interessiert immer auch der Kampf bzw. die Frage nach der gerechten Gesellschaft (dies ist im oberen Zitat mit dem Begriff «Ziel» umrissen). Bereits früh, nämlich schon in seiner Auslegung des Matthäusevangeliums von 1933–35 ist dieser Schritt angedacht: «Um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden ist ja nie nur persönliches Schicksal. Es ist immer auch Kampf gegen Wahrheit und Gerechtigkeit im Ganzen. Es ist nur möglich, wenn Wahrheit und Gerechtigkeit in der Welt, in einem Volk wie ausgelöscht sind» (Fuchs 1933–35/2012: 32). Eine gerechte Gesellschaft kann sich nur zusammensetzen aus denjenigen Gerechten, die dem Ruf Folge leisten, in deren Leben etwas Hereingebrochen ist, die etwas erfahren haben von dem, das mehr ist als alle weltliche Wahrheit und Gerechtigkeit. In diesem Neuen wird Natur überwunden und Kultur entsteht:

«Und wenn dann über das Individuelle hinaus dasselbe als das Werden einer neuen Gemeinschaft, neuen Zeit und Welt und Gesellschaftsgestaltung über Völker und Menschenwelt kommt, dann erlebt der Mensch noch gewaltiger die Wirklichkeit jener Schöpfermacht, die uns alle schuf als naturgetriebene Wesen, um uns aus der Natur herauszurufen, dass wir lernen, die uns gegebenen Kräfte und Gewalten frei und werdend, uns selbst gestaltend und neu schaffend, in den Dienst seines großen Zieles ‹Gerechtigkeit› zu stellen.» (Fuchs 1936–37/2015b: 56)

Klar ist es ausgesprochen: Das Ziel in der Zukunft ist Gerechtigkeit. Wie könnte es anderes sein? Eine Gerechtigkeit in den augenblicklichen Zuständen (wir sprechen hier von den Jahren seit 1933 in Deutschland) war ja völlig undenkbar.

Hier klingt durchaus ein Entwicklungsgedanke an: weg von der Zwangsgemeinschaft, aus naturhaften Zwängen, hin zur Gemeinschaft der aus freien Stücken Verbundenen, die Kultur ausmacht, denn um eine kulturtragende Gesellschaft geht es Fuchs immer wieder:

«Herdentrieb bleibt Herdentrieb – und wird doch glühende Sehnsucht die Herde, der man angehört, von ihrem Herdendasein zu erlösen, indem man sie durchdringt mit der Ehrfurcht vor Menschsein, Menschenwürde, Gewissensverantwortung, dass Herdendasein werde zu einem Zusammengehören in Gerechtigkeit und Wahrheit, und Arbeiten und Wirtschaften des Menschen nicht mehr ein Kampf ums tierhafte Leben sei, sondern ein Ringen um die Gaben und Kräfte der Natur […] Im reinen, ehrfürchtigen Wirken für die anderen, mit den anderen für Gerechtigkeit und Frieden und Güte wird die hetzende Lebensangst überwunden und die egoistische Leidenschaft gebrochen. Auf allen Lebensgebieten werden die Werke des Leibes Werke des Geistes.» (Ebd.: 162 f.)

Wo nun beginnt die Hinformung zu einer Gerechtigkeit, zu einem gerechten Leben, zu einer christlichen Gesellschaft? Zwar ist es richtig, dass die Vollendung in Gerechtigkeit wohl eine zukünftige Sache ist, ihren Anfang hat sie aber bereits genommen, nicht heute, nicht 1938, sondern in und mit der Auferstehung Christi: «So beginnt von seiner Auferstehung Christi her gesehen das Gerechtwerden derer, die er in die Treue hineinreißt, damit das Gerechtwerden der Menschheit ihrem heiligen Gottesziele zu» (ebd.: 69). Die Auferstehung allein ist für Emil Fuchs der Punkt, von dem aus sich Gerechtigkeit überhaupt denken lässt. Hier ist er ganz protestantischer Theologe:

«Er starb und lebt und ist Gotteskraft, Schöpferkraft für Geschlecht um Geschlecht – ‹um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt›. Aber heißt es nicht ‹Auch uns soll angerechnet werden›? Heißt es nicht immer wieder ‹seine Treue wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet›? Kann da Paulus wirklich meinen, dass es ein Hineinschreiten in die Welt der Gerechtigkeit ist, das sich mit diesem Erfasstwerden vom Glauben, von der Treue vollzieht? Paulus weiß von der Gewalt der Sünde über Mensch und Menschheit. […] Er war selbst ein Verfolger gewesen aus kirchlichem und vaterländischem Nationalismus und Ehrgeiz heraus. Er weiß von diesen Gewalten und von der Schuld. Er weiß, wie uns das beherrscht und immer wieder beherrscht. Ihm entrinnen wir nie ganz. Deshalb ist alle Gnade und Erlösung immer auch ein ‹Angerechnetwerden›. Wir sind nicht die Diener Gottes – und werden doch als solche gerechnet. Wir sind nicht Glieder seines Reiches und er hält uns doch als solche. Das ist die Gnade.» (Ebd.: 69)

Letztlich sind es zwei Pole, zwei Grundausrichtungen, die jede Theologie zusammenbringen muss: einerseits die Hoffnung und Ansporn auf ein besseres Dasein, auf Heiligung und eben Gerechtigkeit, dann aber auch das Anerkennen der Sünde, die Problematik des Bösen. Fuchs löst es mit dem Begriff des Angerechnetwerdens.

Der Tod und die Auferstehung sind aber nicht, wie man aus dem Zitat schließen könnte, allein der zeitliche Anfangspunkt der Gerechtigkeit, sondern auch deren Grund und Ursache. Vermutlich kennt jeder die Auferstehungsgeschichte nach dem Markusevangelium (Mk. 16,9–20). In einigen Handschriften ist vor dem Worte «Gehet hin in alle Welt» (Mk. 16,15) das Folgende eingeschoben:

«Jene aber verteidigten sich und sagten: ‹Dies ist die Weltzeit der Ungerechtigkeit und des Unglaubens unter des Satan Herrschaft. Es kann nicht durch die Geister die wahrhaftige Macht Gottes fassen, da es unrein ist. Deshalb offenbare du jetzt schon deine Gerechtigkeit.› Ihnen sagte der Christus: ‹Das Maß der Jahre der Macht des Satan ist erfüllt. Aber es nahet anderes Furchtbares. Wegen dieser Sündigenden wurde ich dem Tode übergeben, dass sie sich zur Wahrheit wenden und nicht mehr sündigen, damit sie die Herrlichkeit der geistigen und unvergänglichen Gerechtigkeit im Himmel erben möchten.›» (Fuchs 1938/2015a: 32)

Schon immer ist so gewesen, dass einige forderten, die göttliche Gerechtigkeit solle jetzt und hier offenbart werden. Ihnen hält Christus entgegen, dass diese Forderung zeitlich vorgreife: «Geistige», also spirituelle Gerechtigkeit und transtemporale (also unvergängliche) Gerechtigkeit gibt es nur am Ende von Zeit und Raum, also letztlich doch im Himmlischen Jerusalem, in dem ohnehin ausschließlich Gerechte wohnen. In dem Zitat wird einmal mehr Wahrheit zu Gerechtigkeit gesetzt. Wahrheit ist hier zu verstehen als Voraussetzung, etwas zu ererben, nämlich die Gerechtigkeit. Ohne Wahrheit ist Gerechtigkeit nicht möglich, sie ist hier Folge und Vollendung einer (frei scheinenden) menschlichen Entscheidung. Möglich ist letzte Vollendung jedoch nicht, wohl aber ein hoher Grad von Annäherung an Wahrheit und Gerechtigkeit, was vor allem in der Auslegung des Matthäusevangeliums angesprochen ist:

«Falsch nur ist es, solche neuen Zeiten des Ringens um Wahrheit und Gerechtigkeit und des Aufbaus in diesem Geiste schon sofort gleichzusetzen der letzten Vollendung, da die Ewigkeit ganz in uns ist, ganz nahe, ganz alles erfüllend. Bis jetzt stehen wir im Ringen, da wir in menschlichem Stückwerk etwas vom Ewigen fassen und ewige Kraft in unser Werk legen und doch nicht genug, um es ganz zu heiligen, ganz zu Gerechtigkeit und Reinheit zu wandeln.» (Fuchs 1938/2016b: 91)

Damit kommt man unweigerlich auf die Frage, die Emil Fuchs an uns stellt: Können für einen Christen Gerechtigkeit und Leben getrennt sein? Gerechtigkeit ist das neue Leben, welches in demjenigen aufsprudelt, dessen Geist mit ihm erfüllt ist; schöpferisch ist es und frei und doch im Innersten durch die Einheit des Lebens selbst gebunden an den, der es gibt. Nach Fuchs gehört es ausdrücklich zu einer absichtlichen Verfälschung der (christlichen) Botschaft, wenn die Kirchen das Wort «Gerechtigkeit» selbstverständlich setzen für moralische Gerechtigkeit, die lediglich Gebundenheit an traditionelle, gesellschaftliche Moral und Gesetzlichkeit ist. Solches hat Fuchs immer wieder erfahren müssen, und er hat sich mehrfach in den 1920er und auch 1930er Jahren gegen eine scheinbar gerechte Haltung der Kirchen gewandt (Fuchs nannte es «das Reinreligiöse», das mit der Bergpredigt und dem Leben Jesu nichts mehr zu tun habe) und versuchte sie zu überwinden. Dies umreißt eine weitere sprachliche Figur aus dem Denken von Emil Fuchs: die des «ungerechten Gerechten» bzw. die ungerechte Gerechtigkeit. Das sind Zustände, in denen alles gerecht erscheint, die aber nur aufrechterhalten werden durch Zwang und Überwachung. «Ungerechte Gerechte» sind letztlich Pharisäer:

«Deshalb kann der Erlöser selbst den Sündern helfen, die Sehnsucht und Aufmerksamkeit in sich zu tragen – aber nicht den Gerechten, die voller Misstrauen durch angstvolles Bewachen sich und Andere auf dem rechten Wege halten wollen und in diesem Misstrauen jeden Ruf zur freien Unbefangenheit des Vertrauens als Gefahr hassen müssen.» (Fuchs 1938/2015a: 47)

«Gerechtigkeit» ist gerade nicht Gesetzeserfüllung, sondern eben ein schöpferisches Leben, das in dem bzw. den Menschen und in der Welt geschaffen wird. Dass sich mit der Pharisäer-Haltung (des «ungerechten Gerechten») letztlich kein Staat und keine Gesellschaft auf Dauer halten kann, war Fuchs klar: «So wird die Verantwortung dieser Kreise für ihren Staat mehr und mehr eine Scheinverantwortung, die nicht mehr dem Werden von Gerechtigkeit gilt, sondern dem Erhalten der Formen, die ihnen dienen. Strengste Gesetzlichkeit wird da proklamiert, wo das Ererbte ihnen dient. Das Ererbte wird rasch verachtet, wo es dem entgegensteht» (Fuchs 1936–37/2015b: 132). Es ist klar, dass hier nicht die faschistischen Kräfte gemeint waren, sondern zunächst solche «christlichen» Kreise, die diesen Kräften aus falsch verstandener Frömmigkeit nichts entgegensetzten, sie oftmals auch stützten und letztlich leider auch ein Teil dieser faschistischen Kräfte waren.3

Ergebnisse

(1) Der Begriff Gerechtigkeit ist eine zentrale Kategorie der Evangelien-Auslegung von Emil Fuchs, er fällt in unzähligen Zitaten.

(2) «Gerechtigkeit» und «Wahrheit» gehören unmittelbar zusammen, es sind zwei Komponenten, unterschiedlich in Sinn und Bedeutung, die beide benötigt werden, um das Zukünftige des Gottesreichs inhaltlich zu umreißen, es verständlich zu machen, es vom Gegenwärtigen zu unterscheiden.

(3) Gerechtigkeit ist nicht allein Gesetzeserfüllung, sondern geht darüber hinaus: Sie ist schöpferisches Leben und Gestaltung oder, mit anderen Worten, sie ist die Wandlung von Natur zu Kultur.

(4) Neben individueller Gerechtigkeit (die Frage nach dem Gerechten) interessiert Fuchs immer die Gerechtigkeit als soziale Frage. Nur aus einer gerechten Gesellschaft kann ihm Kultur entstehen, alles andere ist ihm das «Reinreligiöse».

(5) «Gerechte aus dem Glauben» übersetzt Fuchs mit «Gerechte aus der Treue» und verfolgt damit eine aktive Interpretation des Gerechten als jemandem, der in Treue aktiv gestalterisch wirkt.

(6) Gerechtigkeit wird von der Auferstehung gedacht, von dort aus bringt die Gnade Gottes Menschen in Treue dem eigentlichen Ziel entgegen: Gerechtigkeit und Wahrheit.


1  Fuchs 2012: 15.

2  Auch Gegenstände können Symbole für die Gerechtigkeit Gottes sein, etwa die sieben Fackeln (Apok. IV) oder Leinen/Linnen (Apok. XIX, 6–21).

3 Heute stellen sich die Kirchen gerne als Hort des Glaubens gegen ein angeblich atheistisches Gewaltregime dar und betreiben eine kultartige Verehrung ihrer (zu wenigen) Widerstandsleistenden, während gleichzeitig Täterforschung marginalisiert oder gar behindert wird.

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