Karsten Krampitz: Frömmelnde Rückbesinnung

Jedermann sei untertan Teil II: Wie die evangelische Kirche zu ihrer NS-Verstrickung schwieg

erschienen: Neues Deutschland 22. August 2017

Der frühere DDR-Theologe Johannes Hamel resümierte 1999 im Interview über die Schuld der Kirchen in der NS-Zeit: »Stellen Sie sich mal vor, Niemöller ist doch ’45 fast der Einzige gewesen, der gefragt hat: Wie können wir es nach der Beteiligung am Nationalsozialismus eigentlich noch wagen, das Evangelium in den Mund zu nehmen? Im Stuttgarter Schuldbekenntnis hat Niemöller den Satz durchgesetzt: ›Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.‹ Aber Dibelius hat dann hinzugefügt: ›…wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.‹ Das kann man natürlich allezeit sagen. Die Masse, auch der christlichen Wortführer, hat doch gar nicht kapiert, dass es ein Wunder Gottes ist, dass sie überhaupt noch gewürdigt sind zu predigen.« – Der Lernprozess der Kirchen hält bis heute an.

Obwohl es in der evangelischen Kirche am 8. Mai 1945 keine »Stunde null« gegeben hat, die nationalprotestantischen Bindungen, wie im ersten Teil dieser Serie beschrieben (nd vom 14. August), noch bis Ende der 1960er-Jahre fortwirken sollten, gab es dort einen Mann der Stunde, namentlich Otto Dibelius.

Vom Berliner Bezirk Zehlendorf aus rief der im August 1933 geschasste kurmärkische Generalsuperintendent die alten Weimarer Positionen und Strukturen der Brandenburger Provinzialkirche wieder ins Leben. Und wie selbstverständlich reklamierte er die wichtigsten Leitungsfunktionen für sich. Durch einen »souveränen Akt der Selbsternennung«, so der Historiker Manfred Gailus, trug Dibelius nunmehr den Titel »Bischof von Berlin«, war Präsident des Konsistoriums und noch dazu Generalsuperintendent der Kurmark und (ein extra Amt) Generalsuperintendent Berlins.

Davon abgesehen stand Dibelius seit Kriegsende auch noch dem Evangelischen Oberkirchenrat der verbliebenen altpreußischen Rumpfkirche vor. Diese im deutschen Protestantismus einmalige und von der Kirchengeschichtsschreibung überhaupt nicht hinterfragte Ämterhäufung des Otto Dibelius lässt sich nicht allein aus der damaligen Notsituation der Kirche begründen.

Zweifellos hat es in der Pfarrerschaft der Berlin-Brandenburgischen Kirche einen Mangel an Leuten gegeben, die in den Jahren zuvor nicht in irgendeiner Weise durch die Nazis und die klerikal-faschistische Glaubensbewegung »Deutsche Christen« korrumpiert worden waren – nur ist die Ursache für das Fehlen dieser Menschen bei Dibelius selbst zu suchen, in seinem autoritären Führungsstil.

Der Umgang des Berliner Bischofs mit kritischen Geistern in seiner Kirche muss aus heutiger Sicht als durchaus problematisch gewertet werden. Ein trauriges Beispiel für das menschliche Klima unter Dibelius ist der von den Nazis 1940 des Amtes enthobene Superintendent von Berlin-Spandau, Martin Albertz – für Manfred Gailus der eigentliche »Spiritus Rector« des Berliner Kirchenkampfes. Otto Dibelius hätte Albertz vollständig rehabilitieren können, doch er unternahm keinerlei Versuche, ihn in sein früheres Amt wieder einzusetzen.

Überhaupt wurden nach dem Krieg nur relativ wenige Pastoren der Bekennenden Kirche, wie Heinrich Grüber und Kurt Scharf, in der Berlin-Brandenburgischen Bischofskirche auf Leitungsebene eingebunden. Manfred Gailus fragt: »Um wie viel wäre die konservative Berliner Bischofskirche und ihre Nachkriegsführung kleiner geworden und moralisch geschrumpft, wenn sie im Kirchenkampf bewährte Personen wie Niemöller, Günther Dehn, Wilhelm Jannasch, Willi Ölsner, Franz Hildebrandt, aber auch Agnes von Zahn-Harnack, Elisabeth Schmitz, Elisabeth Schiemann und manche anderen freien Geister zurückgerufen hätte? Sie waren offenbar unerwünscht.«

Eine Entnazifizierung durchführen zu wollen, ohne dabei auf die wenigen ausgewiesenen NS-Gegner in der eigenen Kirche zurückzugreifen – ein solches Unternehmen war zum Scheitern verurteilt. Die Entnazifizierung in der Berlin-Brandenburgischen Kirche unter Bischof Dibelius war eine Farce.

Deutlich wird dies am Fall des Berliner Propstes Walter Hoff (1890-1970). Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand war der frühere »Standartengeistliche« der SA und Konsistorialrat in der Kirchenleitung der Mark Brandenburg im Krieg als Hauptmann an Massenerschießungen jüdischer Menschen beteiligt. In einem Brief vom 29. September 1943 bekannte Hoff gegenüber dem Berliner Oberkonsistorialrat Horst Fichtner, »dass ich in Sowjetrussland eine erhebliche Anzahl von Juden, nämlich viele Hunderte, habe liquidieren helfen«.

In der Evangelischen Kirche war der Brief des Walter Hoff spätestens seit 1946 bekannt. Dennoch konzentrierte sich das Disziplinarverfahren gegen Hoff lediglich auf seine innerkirchlichen Verfehlungen als Amtsträger der »Deutschen Christen«. Hoffs Behauptung, er habe seine Beteiligung am Massenmord frei erfunden, um dem Misstrauen der NSDAP gegen seine Person etwas entgegenzusetzen, wurde von der Disziplinarkammer akzeptiert. Angeblich hatte Hoff den Überwachungsstellen des NS-Staates vortäuschen wollen, weiterhin loyal zu sein. Ergo: Walter Hoff war kein Kriegsverbrecher, dessen Fall man der Justiz hätte übergeben müssen, sondern nur ein Pfarrer, der sich im geistlichen Bereich Verfehlungen hatte zuschulden kommen lassen.

Mit dem Urteilsspruch von 1949 verlor Walter Hoff, ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, seine Rechte aus der Ordination. Im Jahr 1958 gab ihm das Berliner Konsistorium seine Pfarrrechte zurück. Ab 1960 überwies man ihm eine monatliche Rente von 540 DM. Dagmar Pöpping von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte sagt, die Kirche habe ihm nicht gleich vergeben, sondern die für sie härteste denkbare Strafe, die Entlassung aus dem Amt und den Verlust der Rechte des geistlichen Standes, verhängt. »Sie brauchte 12 Jahre, um schließlich doch noch den ›Mantel vergebener Liebe‹ über die Selbstbezichtigung Walter Hoffs zu decken. Der Gedanke, dass es hier um ein reales Verbrechen gegangen sein könnte, blieb ein Tabu. Möglicherweise fürchtete die Kirche, mit den Verbrechen an den Juden in Verbindung gebracht zu werden, wenn sie das Bekennerschreiben ihres Geistlichen aus dem Jahr 1943 ernstgenommen hätte. Vielleicht war es aber auch für die kirchliche Führung schlicht unvorstellbar, dass ein Pfarrer an der Ermordung der europäischen Juden teilgenommen hatte.«

Zurück zu Otto Dibelius: Als hätte es keine anderen, keine wichtigen Probleme im Deutschland der Nachkriegszeit gegeben, vor allem in Berlin, führte der Bischof seinen Kampf gegen den Atheismus fort. In einer Rede, gehalten am 16. März 1947 im britischen Sektor Berlins, prangerte er Friedrich Nietzsche und Alfred Rosenberg in einem Atemzug an. Er sagte ferner: Früher habe man nur den Menschen gekannt mit metaphysischen Bindungen, den Menschen, der sich »von einer höheren Macht beobachtet und beurteilt fühlte«.

Dies sei nun anders geworden, die Menschen fühlten sich nicht mehr durch eine überirdische Macht gebunden. Plötzlich sei er da gewesen, der SS-Mann, der im KZ mit seinen Häftlingen machen konnte, was er wollte. Zwei, drei Jahre hätten genügt, um diese SS-Männer alles vergessen zu lassen, was sie jemals von den Geboten Gottes gelernt hatten… – »Der große Säkularisierungsprozess ist kaum aufzuhalten.«

Der Kampf gegen die Säkularisierung sollte für Dibelius das große Mantra bleiben. Noch im Jahr 1951 erklärte er im Rückblick die NS-Diktatur – zumindest andeutungsweise – mit dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789. Zur Eröffnung des gesamtdeutschen Kirchentages am 11. Juli 1951 sprach Dibelius in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle vor 11 000 Zuhörern: »Zwölf Jahre haben es deutsche Menschen leidenschaftlich betont, wir seien alle Brüder und Schwestern, weil wir eine Gemeinschaft des reinen Blutes entdeckt hätten. Im Namen dieser bluthaften Brüderlichkeit haben sie dann fünf Millionen Menschen in die Gaskammern geschickt. In der vielgepriesenen Französischen Revolution lautete das Schlagwort der Jakobiner: La fraternité ou la mort! Wir Deutsche haben das noch etwas liebloser, als es damals schon gemeint war, übersetzt: Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein!«

Vor dem Hintergrund der restaurativen Entwicklung der gesamtdeutschen Nachkriegskirche erscheint Dibelius’ Berufung zum EKD-Ratsvorsitzenden 1949 konsequent und logisch. Seine Wahl folgte dem gleichen (westdeutschen) Zeitgeist wie die Wahl Konrad Adenauers zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Dessen Führungsanspruch ging einher mit einer merkwürdig frömmelnden Rückbesinnung auf die »christlich-abendländische Kultur«, so der Jenaer Historiker Dietmar Süß.

Vaterland und Abendland waren wieder in Gefahr, und Unbill drohte von allen Seiten: von der Moderne, der »Vermassung« der Deutschen, dem neuen Moloch Technik, dem Individualismus im Westen, und, wie zu erwarten: vom Bolschewismus im Osten!

Die Kehrseite dieser Rückbesinnung war eine enorme Verdrängungsleistung, nicht zuletzt bei Dibelius, der nach Kriegsende noch meinte, die Demokratie werde in Deutschland keinen Erfolg haben, weil sie eine fremde Ideologie sei. Der Ausspruch: »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern«, wird heute zwar Adenauer zugeschrieben; vielleicht ließ sich der Kanzler aber von Otto Dibelius inspirieren – von dessen Festpredigt zur Eröffnung des 1. Deutschen Bundestags im September 1949. Verglichen mit seiner Rede vom 21. März 1933 zur Eröffnung des Reichstags fand der Kirchenführer jetzt zwar gänzlich andere Worte, im Mittelpunkt stand der Psalm: »Ich schwöre und will’s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will« (Ps.119, 106) – auf seine Predigt und Rolle aber beim »Tag von Potsdam« ging Bischof Dibelius nicht mit einer Silbe ein!

Die Kirche, die so lange zu Unrecht und Mord geschwiegen hatte, stritt jetzt für die Rehabilitation früherer NSDAP-Mitglieder und forderte die Freilassung verurteilter Kriegsverbrecher.

Theophil Wurm, bis 1949 EKD-Ratsvorsitzender, beklagte am Ende seiner Amtszeit das »unselige Kollektivprinzip«, das bei der Entnazifizierung zur Anwendung käme. Im Rundfunk kommentierte er: Die Bestrafung erfolge nicht aufgrund begangener Vergehen oder Verbrechen, sondern aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe. »Davon sind insbesondere Mitglieder der Waffen-SS-Formation betroffen.«

Zur gleichen Zeit erging an die Siegermächte ein »Wort der EKD zur Kriegsgefangenen- und Internierten-Frage«, in dem es hieß: »Lasst ab von dem Sonderrecht gegen die Besiegten! Beendet die Auslieferung von Kriegsgefangenen für Kriegsverbrecherprozesse!« Johannes Lilje, Bischof von Hannover und stellvertretender EKD-Ratsvorsitzender, verkündete das Ende aller Aufarbeitung: »Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluss zu kommen. (…) Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer eigenen Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist die Frist vorbei.«

Das sagte einer, der noch 1941 mit dem theologischen Propagandaschmöker »Der Krieg als geistige Leistung« reüssiert hatte.

 

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