Revolution und Reformation

Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf dem evangelischen Kirchentag 2017 zu Revolution und Reformation. Luther, Müntzer, Marx.

Revolution als tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch begriffen. Wie kann man zu einem solchen tiefgreifenden Umbruch als Linke kommen? Dieser Frage geht diese Veranstaltung am Freitag Nachmittag 26. Mai 2017 auf dem Kirchentag nach. Reformation ist eine Bewegung, die ihre Wurzeln in der Hussitischen Bewegung hat, in der Reformationsbewegung in England und den humanistischen Bewegungen. Martin Luther, Thomas Müntzer und Karl Marx werden hier genauer betrachtet. Ulrich Duchrow, Befreiungstheologe und Mitbegründer von Kairos Europa, Julia Lis vom Institut für Theologie und Politik Münster, Michael Ramminger, ebenfalls vom Institut für Theologie und Politik, Kacem Gharbi, muslimischer Befreiungstheologe werden diesen Fragen auf den Grund gehen. Cornelia Hildebrandt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung moderiert die Veranstaltung

Cornelia Hildebrandt fragt Ulrich Duchrow: „Die Flugschrift beschreibt Deinen Ansatz: Mit Luther. Papst und Marx den Kapitalismus überwinden. Was sind die wichtigsten Gedanken, die Du uns heute mitteilen möchtest?“

Ulrich Duchrow: Luther ist eine unvollendete Reformation. Ganz klar ist Luther im Blick auf Kapitalismus, aber weil er in der Übergangszeit von Feudalismus und Kapitalismus lebt, hat er problematische Seiten im Blick auf die neue Verstärkung des feudalistischen Systems. Luther ist in dem Sinne Revolutionär und Reaktionär zugleich. Während Thomas Müntzer die genossenschaftliche und föderative Selbstorganisation der norddeutschen Bauern durch eine Reise mit eigenen Augen und Ohren kennenlernte, kam Luther nie aus seinem Fürstenstaat heraus. Er glaubte, wenn man den Feudalismus abschaffe, würde Chaos entstehen und jegliche Ordnung zusammenbrechen und jeder gegen jeden kämpfen.

Die kapitalismuskritische Seite fehlt in der deutschen evangelischen Kirche und den Theologischen Fakultäten fast vollständig. Luther greift auf die Wurzeln der Schrift zurück und ist ganz klar auf der Linie Gott oder Mammon. In den 95 Thesen geht es um die Käuflichkeit des Heils und damit um den Übergriff des Kapitals auf alles was in der Kirche ist. Durch Luthers gesamten theologischen Schreiben zieht sich der Konflikt zwischen Gott oder Mammon, im großen Katechismus im ersten Gebot wo er Mammon als den allgemeinsten Abgott auf Erden bezeichnet. Und die ökonomische Folge ist, dass Ökonomie als Raubsystem konzipiert wird und er diese beim siebten Gebot „Du sollst nicht stehlen“ verhandelt. Und stehlen bezieht er nicht allein auf die Taschendiebe, sondern auf alles auf dem Markt. Und wenn man diesen Markt anguckt, so ist er nichts weiter als ein breiter Stall von großen Dieben, so sagt Luther. Und die Erzdiebe sind das was wir heute transnationale Konzerne nennen und früher die Fugger in Augsburg usw. waren. Und fordert dann, im Blick auf die Frage wie die Einzelnen und die Kaufleute sich verhalten sollen, genau wie später von Karl Marx entwickelten Arbeitswertlehre, d.h. er sieht die Wirtschaft wie sie sein soll, wie Aristoteles sie schon als eine bedarfsorientierte Ökonomie beschrieb, wobei Geld nur als Tauschmittel funktioniert, aber nicht aus Geld Geld gemacht wird. D.h. bedarfsorientierte Ökonomie des Genug für alle und aufbauend auf Arbeit. Zum Beispiel fragt ihn ein Kaufmann: „Kann ich denn als Kaufmann auch Christ sein?“ Darauf sagt Luther: „Ja ganz einfach, du zählst einfach deine Arbeitsstunden und multiplizierst diese mit dem Lohn eines Tagelöhners. So dass Du und Deine Familie genug zum Leben habt.“ Er billigt dann noch einige Risikoaufschläge und Rücklagen zu in einem begrenzten Rahmen. Bedarfsorientierte Ökonomie versus geldvermehrungsgetriebene kapitalorientierte Ökonomie. Da hat Marx ihn später seitenweise zitiert, dadurch wird Marx auch als Theologe ernst genommen insofern er die Frage Kapitalismus als Religion als sogenannte Fetischischmusanalyse behandelt. Die Götzen in der Bibel sind solche, die Menschenopfer fordern und das ist genau was Luther und dann Marx ausführlich und später der Papst Franziskus sagen, dass eben diejenigen die Menschen über diese ökonomischen Raubprozesse die Nahrung rauben, gleichzeitig Mörder sind. So wie Jean Ziegler sagt, ein Kind das heute an Hunger stirbt, wird ermordet. Das ist wörtlich zu nehmen, denn es könnte ganz anders sein, wenn die Lebens-, Produktions- und Verteilungsweise gerecht wäre. Und von daher gesehen ist dies eine direkte Verbindung zwischen Luther, Marx und Papst, dass diese Wirtschaft tötet und zwar strukturell und auch dadurch, dass alle im Kopf und Herzen her mitmachen.

Papst Franziskus geht direkt auf das fünfte Gebot und sagt: „Diese Wirtschaft tötet“ auf der Basis vom fünften Gebot im apostolischen Schreiben „Die Freude des Evangeliums“. Was ich versuche zu zeigen, ist die durchgehende Linie von profititora über Jesus, Gott oder Mammon, dann bereits im Mittelalter wo umgeschaltet wird von Geldwirtschaft auf Kapitalwirtschaft, d.h. die ständige Reinvestition der Gewinne, anfänglich in den oberitalienischen Handels- und Bankstädten und da gibt entstehen es auch schon Gegenbewegungen, die Waldenser, die Franziskaner. Diese von Geld getriebene Zivilisation ist heute auf ihrem Höhepunkt und wir haben eine Situation, uns zu entscheiden, diesen Kapitalismus zu überwinden, der uns zerstört oder wir rennen von einer Katastrophe in die Nächste.

Cornelia Hildebrandt: Michael Ramminger, hätte Luther mehr Münzeraner sein müssen und wo siehst Du die Defizite, wo man hätte die Reformation hätte weiter treiben können oder auch müssen?

Michael Ramminger: Das kann man so nicht beantworten und ich versuche mich dem Thema anders zu nähern: Warum beschäftigt uns das Thema heute überhaupt? Weil wir eine Revolution brauchen, wir brauchen eine Revolution. Und das ist schon schwer zu sagen heute und zumal in kirchlichen Zusammenhängen. Wir brauchen eine völlige Ersetzung der politischen und gesetzlichen Systeme die wir haben, wir brauchen einen völlig anderen sozialen Aufbau der Gesellschaft, angesichts von Ungleichheit und Ungerechtigkeit sowohl national als auch global und wir ein völlig neues Wertesystem in der Gesellschaft. D.h. wir müssen uns verabschieden von diesem kapitalistischen Marktwahnsinn und dass es keine Alternative geben könne dazu. Wenn die drei Kriterien neue soziale und gesetzliche Grundlagen und neuer sozialer Aufbau und neue Wertesysteme erfüllt sind, spricht man in der bürgerlichen Wissenschaft von einer Revolution.

Ob etwas als eine Revolution war, wissen wir allerdings erst hinterher. Die Menschen und Akteure, die eine Revolution beginnen wissen vorher nicht, was dabei letztendlich herauskommt. Daher ist die Frage nach der Wirkungsgeschichte bedeutsam, völlig unabhängig von den Autoren. Wenn ich mir die Wirkungsgeschichte von Martin Luther und dieser Reformationsgeschichte anschaue, dann muss man damit aufräumen. Und damit meine ich die Römerinterpretation, die zwei Reiche Interpretation und dass die weltliche Ordnung Gott gewollt ist. Da allerdings gibt es einen systematischen und grundsätzlichen Unterschied zwischen Müntzer und Luther. Müntzer war der Meinung, dass das Recht der Herrschenden dort seine Grenze dort findet, wo es sich gegen das Volk richtet und das Volk ein Widerstandsrecht gegen das Unrecht der Herrschenden hat. Wenn man so will hat Münzer ein sehr modernes Verständnis von Volkssouveränität hat. Die Geisttheologie von Münzer, der immer gesagt hat, die Bibel sei nicht der Glaube, sondern was in der Bibel steht hilft zum Glauben, aber was den Glauben ausmacht, das können wir auch durch unseren Geist, durch die Erfahrung belegen. Auch das hatte einen demokratischen Impetus. Auch einfache Leute können wissen, ob das der Rechte Glaube ist, dazu muss ich nicht in der Bibel lesen, wenn ich genug zu essen und trinken habe und nicht von den Fürsten gejagt werde, so entspricht das eher den Vorstellungen des jüdischen-christlich Gottes. Da kann man sagen, dass bei Müntzer einiges an Potential ist: Volkssouveränität, Recht auf Widerstand und vor allen dingen hat er im Ansatz behauptet, dass es keine Differenz zwischen Welt- und Heilsgeschichte gibt. Und das hat er ideologiekritisch gegen Luther gerichtet: Warum ist der denn immer so daran interessiert, dass die Fürsten gut dabei wegkommen. Wir kriegen immer eine auf die Nase. Wenn wir vom Reich Gottes reden, dann muss das hier erfahrbar und spürbar sein. Und das haben die Bauern begriffen und deshalb sind sie zu Tausenden zu seinen Predigten gekommen, vielmehr als bei Luther.

Es geht mir nicht darum zu sagen Müntzer war der Revolutionär und Luther der Reaktionär. Für mich ist die Frage wie können wir die Wirkungsgeschichte, also das was daraus geworden ist, bearbeiten. Der Begriff der Volkssouveränität der Begriff der Gleichheit in der Gemeinschaft, die Kritik der Obrigkeit, wenn das Recht sich gegen uns richtet, haben wir das Recht uns dagegen zu wehren. Diese Punkte sind ganz vorwärtsweisend. Wenn wir das zusammennehmen, finden wir bei Müntzer Merkmale einer Theologie und einer Politik, einer Befreiungstheologie übrigens, das Heil der Welt muss sich in der Welt erweisen und nicht irgendwo anders. Wir müssen nochmal kritisch darauf gucken, wie wir hier und heute im Mainstream die Reformation gefeiert wird. Nicht umsonst stellt sich de Maizière, einer derjenigen, die das Asylrecht kaputt machen, heute hin und findet die Zwei-Reiche-Lehre ist das tollste, was man je erfunden hat. Deshalb fangen die in der CDU an, davon zu reden, dass die Kirchen sich gefälligst auf ihr Kerngeschäft reduzieren sollen, Messe halten und nicht so sehr in die Politik einmischen sollen. Da können wir von Müntzer lernen, lassen wir uns nicht wieder herausschieben aus unserer gesellschaftlichen Verpflichtung.

Cornelia Hildebrandt fragt Julia Lis: Wo findest Du in der Theologie der Befreiung Anknüpfungspunkte, jetzt mit einem Papst auf den sich die Linke beruft? Wie siehst du da die Wirkungsmacht und wie würdest du diese beschreiben?

Julia Lis: Jetzt sind wir ja in einer anderen historischen Situation als wenn wir uns angucken, was war die Wirkungsgeschichte von Münzer und Luther, was können wir aus dieser Geschichte lernen. Jetzt sind wir in einer Situation wo wir noch nicht wissen, was wird die Wirkungsgeschichte sein, von dem was Papst Franziskus heute sagt und tut. Es geht ja immer um das Zusammenspiel von bestimmten Figuren, die eine besondere auch symbolische Bedeutung haben können, aber wirkliche gesellschaftliche Veränderungen so denke ich, eine Revolution die wir brauchen, entsteht nicht durch Einzelpersonen, sondern durch Bewegungen. Eine solche Bewegung war und ist, wenn auch heute viel schwächer und marginal, die Theologie der Befreiung. Also wenn wir von Theologie der Befreiung sprechen, meinen wir zwei Ebenen. Zum Einen meinen wir so etwas wie ein Christentum der Befreiung, Christinnen, die sich in Lateinamerika und auch Europa engagiert haben im politischen Kampf um eine revolutionäre Veränderung, das heißt eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft. Und das reflektiert haben aus der Perspektive heraus, es gibt keine Trennung zwischen der Weltgeschichte und der Heilsgeschichte. Wenn wir als Christ*innen versuchen, solche Zustände in der kein Mensch mehr ein verächtliches erniedrigtes usw. Wesen ist, herzustellen, dann bedeutet das gleichzeitig das Evangelium zu verwirklichen, also am Reich Gottes mit zu bauen. Und hier zeigt sich dann auch diese Einheit von dem was gesellschaftlich passiert und was wir als Christ*innen theologisch denken. Die Befreiungstheologie war immer die Reflektion dieses Zusammenhanges, was bedeutet das für unser Christentum, was bedeutet das für unser Engagement in diesem grundsätzlichen radikalen, also an die Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse gehenden, Sinne.

Und wenn wir jetzt von dem Sprechen, was jetzt mit Papst Franziskus geschieht, auch da können wir so ein bisschen anknüpfen bei dem was Michael Ramminger genannt hat zu den Anknüpfungspunkten für Revolutionen. Auch Papst Franziskus teilt die Meinung, dass wir eine grundlegende Veränderung der Strukturen brauchen, zumal er auch auf die drei Ebenen eingeht. Zum Einen finden wir eine grundlegende Kritik des Gesellschaftsaufbaus. Er sagt wir brauchen andere ökonomische Strukturen. Wir müssen wegkommen von dem Fetischismus des Kapitals, was er etwas anders ausdrückt. Aber es wird sehr deutlich, dass er an diese grundlegende Tradition anknüpft, die Ulrich Duchrow auch schon beschrieben hat, die Vergötzung des Geldes muss überwunden werden. Dann gibt es auch eine grundlegende Kritik der politischen Verhältnisse, eine Demokratiekritik, die Art wie Partizipation, wie gesellschaftliche Teilhabe im Moment organisiert ist, entspricht nicht dem wie wir uns eine wirkliche Partizipation von allen und insbesondere von den Armen und von den Ausgeschlossenen her vorstellen können. Das müssen wir grundlegend verändern. Der dritte Punkt ist die andere Form der Praxis von Solidarität, die wir brauchen. Das sind die drei Ebenen,wo sich so ein radikales revolutionäres Programm auch bei Papst Franziskus wiederfinden und das er aus dem Evangelium heraus begründet. Zum einen wenn er sagt wir Christen hätten etwas sehr Schönes, wir haben eine Art revolutionäres Programm und verweist dabei auf die Bergpredigt und auf die Seligpreisung in der Bergpredigt. Das ist schon ein sehr deutlicher Bezug und macht auch deutlich, es geht bei den Seligpreisungen nicht um eine innere oder um eine rein himmlische jenseitige Wirklichkeit, sondern es geht darum, wie können wir eine Gesellschaft vor Freien und Gleichen auf der Erde verwirklichen und was brauchen wir dazu. Und gleichzeitig die Frage nach den Bewegungen. Wichtig ist nicht nur was er sagt, sondern in welchem Kontext Papst Franziskus etwas sagt. Er hat meines Erachtens schon ein Bewusstsein dafür, dass er das nicht als Einzelperson tun kann. Und da ist es wichtig, dass er vieles dieser Aussagen gefallen sind auf dem Welttreffen der sozialen Bewegungen. Eine neue überraschende Einrichtung, die mittlerweile schon dreimal stattfand, wo Papst Franziskus Vertreter*innen sozialer Bewegungen eingeladen hat, z.B. der Landlosenbewegung in Brasilien, der kurdischen Bewegung, der prekarisierten Gewerkschaften des informellen Arbeitsverhältnissen in Lateinamerika, aber auch beim letzten Treffen einen Vertreter von Blockupy Europa, also einer Bewegung die sich hier in Europa gegen die Austeritätspolitik wie sie hier praktiziert wird gegen Griechenland einsetzt. Das zeigt, dass Papst Franziskus sehr wohl eine Idee davon hat, wer die Subjekte der Umgestaltung, die er sich vorstellt, sein könnten. Das das also jene Menschen sind, die sich organisieren, die eine Analyse entwickeln dessen was gesellschaftlich falsch läuft, was verändert werden müsste und die dann aber auch den Schritt gehen, das gemeinsam organisieren, Proteste dagegen zu organisieren und so dazu beitragen wollen, zu diesem anderen Gesellschaftsaufbau. Das ist der ganz spannende Punkt, dass er in den Dialog begibt mit diesen Bewegungen und dass er diese ganz konkret adressiert. Das begrüßen wir nicht nur, weil es etwas Neues ist, dass ein Papst dies tut, sondern weil auch das Institut für Theologie und Politik in dem wir arbeiten, sich als Schnittstelle sieht von Kirche und sozialer Bewegung und weil wir auch aktiv uns hineinbegeben in soziale Bewegungen und daran teilnehmen.

Cornelia Hildebrandt: Wie stellt sich revolutionäre Bewegung vor dem Hintergrund des Islam, des „Arabischen Frühlings“ und konkret in Tunesien dar, Kacem Gharbi?

Kacem Gharbi: Wenn ich von Frühling höre, dann fühle ich mich immer etwas unwohl. Ich mag nicht, wenn das Wort „Frühling“ benutzt wird, es wird immer in Verbindung gebracht mit dem „Prager Frühling“ oder der „Pekinger Frühling“. Die Frage ist, ob das was in Tunesien und in der arabischen Welt passiert ist, eine Revolution oder eine Reform war. Oder handelt es sich um eine Kontinuität des gleichen Systems nur mit anderen Charakteristika. Ich würde gerne auf die Diskussion über Marx und Luther kommen auch Bezugnehmend auf Michaels und Ulrichs Ausführungen. Ich kenne Luthers Schriften nur über Max Weber, Marx kenne ich besser. Ich würde mich da eher auf die marxistische Seite als auf die von Luther schlagen, denn wenn wir sehen was aktuell passiert, wird Luther vom Neoliberalismus ausgenutzt und missbraucht. Wenn wir heutzutage in den arabischen Bewegungen schauen, was unsere Wurzeln sind und auf was wir uns beziehen, so ist das durchaus Luther mit seinen religiösen Reformen. Das ist Grundlage, die wir uns auch zu Herzen nehmen.

Wenn wir Revolution sagen, dann beziehen wir uns direkt auf Marx. Und auch die gemäßigten islamischen Bewegungen beziehen sich auf Luther und das sind neoliberale Bewegungen. Das was wir eher tun sollten, als uns zwischen Marx und Luther zu entscheiden, ist zu schauen wo wir selbst stehen und wo unsere Realität ist, um dort unseren Ansatz zu suchen. In Lateinamerika haben die Befreiungstheologen und -philosophen versucht ihre eigenen Propheten zu finden, Bartolomé de Las Casas, also jemand der für diese Region entscheidend war, als fremde Propheten zu nutzen. Und wir als arabische muslimische Bewegung sind dabei unsere eigenen Propheten zu finden, der oder die aus unserer eigenen Geschichte kommt. In meinen Forschungen, die bald veröffentlicht werden, habe ich unsere eigenen Befreiungspropheten gefunden und benenne diese auch als solche. Sie sind in dem revolutionären islamischen Mystizismus zu finden. Und diese revolutionären Ansätze der islamischen Mystiker finden wir auch bei Marx wieder. Für mich also Marx kein Antireligiöser, sondern er befindet sich in der direkten religiösen Linie der Befreiung. Wir könnten jetzt in die marxistischen Texte eintauchen, aber das ist jetzt nicht der richtige Moment. Aber denken wir an Judenfrage oder die Entscheidung Gott oder Mammon. Das Bild was Marx auswählt, ist ja der Christus, der in den Tempel geht als Symbol des Befreiungskampfes und die Kapitalisten aus dem Tempel vertreibt. Wenn ich auf unsere tunesischer Realität zurückblicke, so bitten wir am 14. Januar morgens den Präsidenten eindrücklich um Reformen, er tritt zurück und am 15. Januar sprechen wir von Revolution. Es gab also eine revolutionäre Bewegung, aber keine Revolution als solche. Jetzt sieben Jahre nach Beginn ist die revolutionäre Bewegung immer noch aktiv. Um eine Vorstellung zu haben, wie das mit der Revolution gelaufen ist, von 2013 bis 2015 hatten wir etwa dreißigtausend Streiks. Diese Zahl zeigt, dass die revolutionäre Bewegung immer noch aktiv ist, das System jedoch die Macht erobert hat. Und die erneute Machtübernahme durch das System war möglich wegen der Reformatoren unter uns. Und was wir jetzt brauchen, ist erneut die marxistischen Schriften zu analysieren in Bezug auf die soziale Realität, um Licht in unsere eigene Geschichte zu bringen und – wie gesagt – die eigenen Propheten ans Tageslicht zu bringen. Das ist die große Schwäche der Linken in Tunesien. Die Linke muss sich reformieren und nicht revolutionieren bei uns in Tunesien. Die Linke ist schon revolutionär, sie muss sich reformieren in Bezug auf die Volkskultur. Mein Eindruck, ich kann hier in Deutschland sowohl mit Linken diskutieren als auch mit Leuten mit religiösen Bezug, da gibt es keine Ambiguität, ich kann beide befragen, das geht. In Tunesien ist das nicht möglich. Ich habe an einer Veranstaltung teilgenommen, in der linke Leute teilgenommen haben zur sozialen Frage. Ich kann hier sagen, ich bin gläubig und gleichzeitig revolutionär und ich werde mir Leuten, die entweder gläubig oder revolutionär sind ein politisches Programm entwickeln können, das ist prinzipiell möglich. Ich kann hier sagen, dass Marx ein Befreiungsprophet ist. Wenn ich auf das Seminar in Tunesien zurückkomme, hat sich die Mehrheit der Linken gegen ein religiöses Denken innerhalb der Linken ausgesprochen. Religion ist Opium des Volkes und da wird ein Punkt gesetzt und der Satz wird nicht fortgesetzt.

Frage: Warum wollen angesichts der Krisen und aufkommenden Katastrophen wie Klimawandel, Kriege und Flucht so wenige Menschen eine Revolution? Und was können wir uns darunter vorstellen, wohin diese Revolution führen soll? Was kann ich danach erwarten?

Michael Ramminger: Das Anliegen kann ich verstehen, aber historisch ist es nie so gewesen. Also Menschen haben nie vorher überlegt, wie muss das alles werden, wie sieht das aus, wie regieren wir uns. Historisch ist es immer so gewesen, die Menschen waren unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen und haben sich auf den Weg gemacht, etwas zu verändern. Dadurch entsteht eine Dynamik, die nicht mehr zu kontrollieren ist oder doch zu kontrollieren ist, wie das Beispiel Thomas Müntzer zeigt: Da haben sich die Bauern auf ein Feld bei Frankenhausen gestellt und gesagt: Wir wollen keine Gewalt, aber wenn ihr nicht umkehrt, können wir auch anders. Worauf die Fürsten gesagt haben: Wir auch und 5000 Bauern umgebracht haben und so die Revolution zum Stillstand gebracht haben.

Warum so wenige Menschen an der Revolution interessiert, also den Kampf um Veränderungen, die wirklich die offensichtlichen Versagen und Sackgassen, denen wir uns gegenüber sehen, bereit sind aufzunehmen. Die meisten Menschen in der Bundesrepublik haben kein wirkliches Interesse daran. Die meisten Menschen leben in der Bundesrepublik mit den Verhältnissen, wie wir sie hier haben, gut. Das stimmt auch und es ist auch kein moralischer Vorwurf, sondern das ist so. Die meisten Menschen, die hier in der Bundesrepublik was zu sagen haben, leben gut mit den Verhältnissen. Und die Menschen, die nicht gut mit den Verhältnissen leben, haben nichts zu sagen.

Ulrich Duchrow: Dies haben wir vor 10 Jahren in einem Buch mit Psychotherapeuten analysiert, das heißt „Solidarisch Mensch werden„. Dort sind wir der Frage nachgegangen, wie es sein kann, dass die Mehrheit objektiv verliert in diesem System und nur eine kleine Minderheit steht auf. Warum? Wenn man das mit Blick auf die Gewinnergruppe analysiert, ist es klar: Sie sind psychologisch zu interpretieren als Süchtige, sie müssen gewinnen. Und wenn sie nicht mehr gewinnen und in diesem Ratrace bestehen, fallen sie in sich zusammen, denn das ist ihre Identität. Zweitens, die Verlierer*innen werden durch die Politik und die Medien in den Fatalismus getrieben, weil ihnen unterstellt wird, sie sind selber Schuld an ihrer Misere. Aber die entscheidende Gruppe, an denen es scheitert, ist die Mittelklasse. Weil die Mittelklasse, kurz gesagt, nach oben will, deshalb ein illusionäres Bewusstsein hat, das ihnen sagt, die da oben können nicht Schuld sein am Abstieg in dem wir uns befinden. Und deshalb kreieren sie Sündenböcke und deshalb kann die AfD dies ausnutzen. D.h. die Widersprüche, die jeden Tag im kapitalistischen System evidenter werden, über die wir uns hier klar sind, können entweder nach rechts oder nach links gedreht werden. Und durch das illusionäre Bewusstsein der Mittelklasse, dass sie eben nicht gemeinsame Sache machen mit den Verlierer*innen, sondern sich an den Eliten orientieren, ist der springende Punkt, weshalb solche Sachen hier auf dem Kirchentag gesagt werden müssen. Wir schlagen in dem Buch vor eine Mission zu den Mittelklassen einrichten. Das hieße aber, sie müssten selbst auf die Couch und ihre eigene Befangenheit im illusionären Bewusstsein der Mittelklasse klar machen. Weltweit haben wir Konsensus, den es so in der Geschichte noch nie gegeben hat. Weltweit ist die Christenheit anti-imperial und arbeiten an Alternativen. In Deutschland sind wir Schlusslicht der Weltgeschichte, weil wir so stark vom illusionären Bewusstsein der Mittelklasse beherrscht sind. Und da haben wir Hausarbeiten zu machen, in Kirchen, in Gewerkschaften, die genau in dieses illusionäre Bewusstsein hinein manövrieren. Deshalb die Kombination von Analyse der imperialen Lebensweise, wie wir darin verwickelt sind und gleichzeitig die Selbstanalyse, wieso sind wir Teil des Problems, weil wir nicht aufstehen, obwohl wir selber vom Abstieg und ökologisch gesehen vom Kollaps bedroht sind.

Julia Lis: Noch einen Aspekt: Wenn wir von Veränderungen reden, wird dies häufig sehr subjektiv wahrgenommen, als sehr individualisierend. Ich muss mich jetzt verändern. Dadurch entsteht ein ungeheurer moralischer Druck, denn ich kann mich in diesen strukturellen Verhältnissen gar nicht so verändern, dass ich richtig lebe, wodurch eine Überforderung entsteht. Daher ist die Herausforderung von dieser moralischen Frage zu einer Frage der Organisierung zu kommen. Wie organisiere ich mich auf unterschiedlichen Ebenen? Wo organisiere ich mich mit anderen, in meiner Uni, in meinem Kiez, in meiner Umgebung, um gemeinsam Formen zu entwickeln, wie wir Gesellschaftsveränderungen betreiben zu können. Das fängt ja schon damit an, dass wir etwas gemeinsam lesen, diskutieren und analysieren, das wir Aktionen planen. Wenn es uns gelingt den Leuten zu vermitteln, dass das etwas ist, was Freude macht, was belebt, dass dies eine Möglichkeit ist Alternativen zu denken und zu schaffen.

 

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