Quidquid agis agas prudenter et respice finem. Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende. (mittelalterliche Weisheit)
Wortmeldung der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde zu Berlin Nach dreißig Jahren: Wir müssen wieder von Sozialismus reden
Dreißig Jahre „Friedlichen Revolution in der DDR“ -es wird gefeiert. Was wird eigentlich gefeiert? Gefeiert wird der Systemwechsel in der DDR. Gefeiert wird auch der Beginn des atemlosen Weges zur Renaissance des einheitlichen deutschen Nationalstaates. Gefeiert wird der Sieg der Marktwirtschaft über die Planwirtschaft und damit der endgültige Erweis der Überlegenheit des Kapitalismus über höchst unzulängliche sozialistische alternative Versuche.
In den Kirchen und in ihrem Umfeld kommt die feierliche Erinnerung an die dreigliedrige „Ökumenische Versammlung“ hinzu. Sie war die praktische Umsetzung des „Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Dieses Programm der ökumenischen Bewegung, nur sechs Jahre zuvor bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), 1983 in Vancouver, auf den Weg gebracht, hatte in der DDR große Aufmerksamkeit gefunden. Die „Ökumenische Versammlung“ war „Wegweiser der Friedlichen Revolution“ schreibt die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK)1. Der Konziliare Prozess war „Wegbereiter der friedlichen Revolution in der DDR“ schreibt der Pressebeauftragte des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Stephen Brown.2 Ähnliche Urteile sind allenthalben zu hören.
In diesem Zusammenhang gibt es offenkundig einen Widerspruch: Der Konziliare Prozess setzte seine drei Schwerpunkte von Anfang an gegen die bestehende Welt-Unordnung. Unzählige Erklärungen ökumenischer Gremien, konfessioneller Weltbünde bis hin zum Papst haben immer wieder in aller Klarheit und Schärfe ausgesprochen: Die gegenwärtige kapitalisitsche Wirtschaftsweise ist nicht zukunftsfähig. Sie steht für Konkurrenz statt Koexistenz. Sie fordert die private Aneignung des Gewinnes und entzieht diesen dem Gemeinwohl. Sie denkt kurzfristig profitorientiert, nie langfristig menschheitsorientiert. Inzwischen gibt es weltweit ein Bewusstsein dafür, dass nicht nur Hunger und Gewaltstrukturen, sondern auch die irreversible Zerstörung der Grundlagen des Lebens unmittelbar mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise zusammenhängen.
Aber im Herbst 1989 hat in der Mitte Europas faktisch eine sprunghafte Ermächtigung dieser Welt- Unordnung stattgefunden. Offensichtlich ging es dabei nicht nur um den Kleinstaat DDR, sondern um die Staatengemeinschaft des „Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)“. Deren reales Sozialismus-Modell erwies sich als der Realität des Kalten Krieges nicht gewachsen. Wie realisierbar das „neue Denken“ im Sinne Gorbatschows, die „Perestroika“ in der Sowjetunion und die Utopie „Europa ist unser gemeinsames Haus“3 gewesen ist, ist umstritten. Das Geschehen in der DDR im Herbst 1989 mit der Öffnung der Mauer war nicht ausschlaggebend für die nachfolgende Verwestlichung des politischen Osteuropa. Aber es hatte eine kraftvolle Symbolwirkung, weil hier die Systemgrenze ein Land und seine Hauptstadt, eine europäische Metropole, zweiteilte. Der Mauerfall hat sich weltweit in das kollektive Gedächtnis als Dammbruch eingeprägt.
Wenn die Ökumenische Versammlung im Rahmen des Konziliaren Prozesses in der DDR wirklich „Wegweiser“ und „Wegbereiter“ für den Systemwechsel war, dann hat sie den Weg geebnet für das, wogegen das ökumenische Programm mobil machen wollte. Es kann zu Recht geltend gemacht werden, was geschah, sei nicht die Absicht der EinberuferInnen der „Ökumenischen Versammlung“ und der ProtagonistInnen des Konziliaren Prozesses in der DDR gewesen. Dafür steht unter anderem der inzwischen legendäre Aufruf „Für unser Land“. Er wurde vom damaligen Pfarrer der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde in der DDR, Dick Boer, initiiert, von reformbereiten Vertretern der Opposition, der Kirche und der SED – Konrad Weiß, Günter Krusche, Dieter Klein – sowie von Christa Wolf formuliert, und von 1,17 Millionen DDR-BürgerInnen unterzeichnet. Er forderte statt der drohenden Vereinnahmung durch die Bundesrepublik „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“4. Das positive Echo aus der BRD war überschrieben: „Für euer Land, für unser Land“, und es trug unter anderem die Unterschriften von Heinrich Albertz, Luise Rinser, Robert Jungk, Dorothee Sölle und Helmut Gollwitzer.5 Was geschah, war nicht gewollt, fand aber bald die Zustimmung einer breiten Mehrheit.
Jürgen Kuczynski, der schöpferischste und wohl auch kenntnisreichste deutsche Wirtschaftshistoriker des vorigen Jahrhunderts, ein unermüdlicher Querdenker des Sozialismus, schrieb 1997 rückblickend: „Ich meine, der ‚Reale Sozialismus‘ hätte nur durch eine radikale Reform, so wie die Menschen sie in der DDR im Oktober 1989 forderten, gerettet werden können – aber in einer Welt, in der der Kapitalismus, insbesondere in der BRD, noch so stark war? Ich glaube, es ist vielleicht eine Illusion, dass das westdeutsche Kapital eine friedliche radikale Reform in der DDR zugelassen hätte.“6
In der Tat, nicht auszudenken, welche starke Symbolwirkung es gehabt hätte, wenn im Herzen Europas zwei deutsche Staaten im friedlichen Miteinander „neues Denken“ praktiziert hätten. Das wäre tatsächlich friedlich-revolutionäres Handeln gewesen. Es wäre zugleich ein Zeichen dafür gewesen, dass Deutschland den Weg endgültig verlassen hat, den es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeschlagen hatte. So wurde es ein Systemwechsel, der – immerhin eine Ausnahme in unserer Geschichte – friedlich blieb, weil die Inhaber staatlicher Gewalt diese nicht zu ihrem Schutz gebrauchten. Der „Konziliare Prozess“ hat seither in Deutschland und offenbar auch in der Ökumene an Kraft verloren. Die Versuche, ihn zu reanimieren waren bisher vergeblich. Hängt das vielleicht mit der misslungenen „Wegweisung“ und „Wegbereitung“ vom Herbst 1989 zusammen? Sich der Frage ernsthaft zu stellen, sollte Vorrang vor allem Feiern haben.
Die Aufgabe ist unumgänglich: Es geht darum, die Rolle des Konziliaren Prozesses im Gründungs- narrativ der Berliner Republik von der „Friedlichen Revolution in der DDR“ kritisch zu hinterfragen. Es geht auch darum, zu fragen, inwieweit der Vorrang des Nationalen im Beitrittsgeschehen den Nationalismus und eine gefährliche Tendenz zur politischen Rechten befördert haben. Es geht vor allem um die Frage, ob es nicht unausweichlich ist, sozialistische Ideen und Strukturen erneut und neu gedacht in Anspruch zunehmen, damit „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ eine Chance haben können.
Im Blick auf die XI. Vollversammlung des ÖRK, 2021 in Karlsruhe, wäre das ein guter Beitrag der ökumenischen Basisgruppen in Deutschland. Und im übrigen geht es dabei auch um Aufrichtigkeit gegenüber den SchülerInnen und StudentInnen, die in jugendgemäßer Kompromisslosigkeit das Ende des Kapitalismus durch einen Systemwechsel anderer Art fordern, als er 1989/90 geschah.
Berlin, 27. Oktober 2019
1 ACK, Einladung zum Symposium 27.3.2019
2 Stephen Brown, Von der Unzufriedenheit zum Widerspruch …; Lembeck 2010
3 Michail Gorbatschow: Umgestaltung und neues Denken für unser Land und die ganze Welt; Berlin 1987, S. 250
4 https://www.ddr89.de/texte/land.html; 28.9.2019
5 https://www.ddr89.de/d/land.html; 28.9.2019
6 Jürgen Kuczynski: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel; Berlin 1996, S. 109