Antisemitismus Studie

Gutachten zur «Arbeitsdefinition Antisemitismus» der IHRA

ZUSAMMENFASSUNG

Mit der im Jahr 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) anerkannten «Arbeitsdefinition Antisemitismus» liegt ein Instrument für die notwendige Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus vor, das weite Verbreitung gefunden hat. In einem Handlungsfeld, das durch hochgradige begriffliche Verunsicherung gekennzeichnet ist, verspricht die Definition als praktische Arbeitsgrundlage begriffliche Orientierung. Tatsächlich stellt die «Arbeitsdefi-nition» mit ihrer konkreten, ohne Fachterminologie auskommenden Sprache sowie mit anschaulichen Beispielen, die den Begriff Antisemitismus anhand typischer, immer wieder auftretender Phänomene ver-deutlichen, inzwischen eine Grundlage für die Arbeit verschiedener Nutzer*innengruppen dar. Zudem erfolgte mit der Aufnahme bis dato nur wenig beleuchteter (israelbezogener) Aspekte von Antisemitismus eine zum Zeitpunkt der Formulierung der Definition (Anfang der 2000er Jahre) notwendige Aktualisierung der Diskussion.

Bei einer näheren Untersuchung offenbaren sich jedoch auch gravierende Mängel. Insbesondere ist die «Arbeitsdefinition» inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert; mithin erfüllt sie nicht die Anforderungen guten Definierens. Die Kerndefinition des Antisemitismus ist zudem reduktionistisch. Sie hebt einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor, spart aber andere, wesentliche, sehr weitgehend aus. Dies gilt insbesondere für ideologische und diskursive Aspekte, beispielsweise den Antisemitismus als verschwörungstheoretisches Weltbild. Ebenso fehlt eine Erwähnung organisations-soziologischer Aspekte der Mobilisierung in Bewegungen und Parteien sowie deren Niederschlag in diskriminierenden institutionellen Regelungen und Praxen. Zudem können manche israelbezogenen Beispiele, die der Kerndefinition hinzugefügt sind, nur mithilfe weite-rer Informationen über den Kontext als antisemitisch klassifiziert werden, da das Beschriebene mehrdeutig ist. Es tritt in komplexen, sich überlagernden Konflikt-konstellationen auf, bei denen eine Zuordnung zu ei-nem spezifischen Problemkreis wie Antisemitismus oft nicht einfach möglich ist.

Ein Beispiel sind die so-genannten doppelten Standards. Sie sind kein hinrei-chendes Kriterium, um eine antisemitische Fokussierung auf Israel von einer solchen zu unterscheiden, die mit den Spezifika israelischer Politik und ihrer weltpolitischen Bedeutung zusammenhängen.In der Folge begünstigt die «Arbeitsdefinition» eine widersprüchliche und fehleranfällige Anwendungspraxis und führt zu Einschätzungen von Vorfällen oder Sachverhalten, die nicht auf klaren Kriterien basieren, sondern eher auf Vorverständnissen derer, die sie anwenden, oder auf unreflektiert übernommenen ver-breiteten Deutungen. Die Anwendung der «Arbeitsdefinition» produziert die Fiktion eines kriteriengeleiteten, objektiven Beurteilens. Die Definition stellt prozedurale Legitimität für Entscheidungen zur Verfügung, die fak-tisch auf der Grundlage anderer, implizit bleibender Kri-terien getroffen werden, welche weder in der Defini-tion noch in den Beispielen festgelegt sind.Die Schwächen der «Arbeitsdefinition» sind das Ein-fallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskre-ditieren. Dies hat relevante grundrechtliche Implikationen. Die zunehmende Implementierung der «Arbeitsdefinition» als quasirechtliche Grundlage von Verwaltungshandeln suggeriert Orientierung. Statt-dessen ist sie faktisch ein zu Willkür geradezu einla-dendes Instrument. Dieses kann genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden.

Anders als die Bezeichnung «Arbeitsde-finition» suggeriert, findet auch keine Weiterentwicklung der Definition statt, um diese Schwächen zu beheben.Fazit: Der Versuch, Probleme allgemeiner begrifflicher Klärung und universeller praktischer Einsetzbar-keit mithilfe der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» zu lösen, muss insgesamt als gescheitert angesehen werden. Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotzdem teilweise verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit kann die Verwendung der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» nicht empfohlen werden. Eine mögliche Ausnahme könnten lediglich eng umgrenzte pädagogische Kontexte darstellen.Wie die Entstehungsgeschichte der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» und ihre weite Verbreitung deutlich machen, gibt es – auch angesichts einer weiter bestehenden Bedrohung durch gegenwärtigen Antise-mitismus – einen großen Bedarf vonseiten verschiedener Institutionen nach in der Praxis anwendbaren Kri-terien zur Identifikation antisemitischer Phänomene. Folglich ist die Entwicklung von klaren und kontextspe-zifischen Instrumenten für die Praxis dringend zu empfehlen.

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