JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS

vom 26. März 2021

Vorbemerkung

Wir, die Unterzeichnenden, legen die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vor. Sie ist das Ergebnis einer Initiative, die ihren Ursprung in Jerusalem hat. Zu den Unterzeichner:innen zählen internationale Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten, darunter Jü­dische Studien, Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahoststudien. Die Erklärung profitierte auch von der Ein­bindung von Rechtswissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft.

Im Geiste der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, des Internationalen Übereinkom­mens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1969, der Erklärung des Stockholmer Internatio­nalen Forums über den Holocaust aus dem Jahr 2000 und des Beschlusses der Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust aus dem Jahr 2005 vertreten wir die Auffassung, dass Antisemitismus einige spezifische Be­sonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist.

Im Wissen um die Verfolgung von Jüd:innen im Laufe der Geschichte und die universellen Lehren aus dem Holocaust und angesichts des besorgniserregenden Wiedererstarkens von Antisemitismus durch Grup­pierungen, die Hass und Gewalt in Politik, Gesellschaft und im Internet mobilisieren, legen wir eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus mit einer Reihe von Leitlinien für die Be­nutzung vor.

Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus reagiert auf die „IHRA-Definition“, die 2016 von der In­ternational Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde. Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kon­troversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich selbst als „Arbeitsdefinition“ bezeichnet, haben wir uns um Verbesserungen bemüht, indem wir (a) eine präzisere Kerndefinition und (b) ein kohärentes Set von Leitlinien vorlegen. Wir hoffen, dass dies sowohl für das Monitoring und die Bekämpfung von Antisemitismus als auch für Bildungszwecke hilfreich sein wird. Wir empfehlen unsere nicht rechtsverbindliche Erklärung als Alternative zur IHRA-Definition. Institutionen, die die IHRA-Definition bereits übernommen haben, können unseren Text als Hilfsmittel zu ihrer Interpretation nutzen.

Die IHRA-Definition enthält elf „Beispiele“ für Antisemitismus, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Dies legt zwar legt einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen bestimmten Schauplatz; allerdings besteht wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina. Wir verfolgen ein doppeltes Ziel: (1) den Kampf gegen Antisemitis­mus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren. Wir sind nicht alle der gleichen politischen Meinung und wir verfolgen keine politische Parteinahme. Die Feststellung, dass eine kontro­verse Ansicht oder Handlung nicht antisemitisch ist, bedeutet weder, dass wir sie befürworten, noch dass wir sie ablehnen.

Die Leitlinien, die sich auf Israel-Palästina beziehen (Nr. 6 bis 15), sollten als Ganzes betrachtet werden. Generell sollte bei der Anwendung der Leitlinien jede im Lichte der anderen und immer mit Blick auf den jeweiligen Kontext gelesen werden. Zum Kontext kann die Intention hinter einer Äußerung, ein Sprachmuster im Wandel der Zeit oder sogar die Identität des Sprechers oder der Sprecherin gehören, besonders wenn es um Israel oder den Zi­onismus geht. So könnte etwa Feindseligkeit gegenüber Israel Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein, aber auch eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung oder eine Emotion, die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen durch Handlungen seitens der staatlichen Institutionen Israels empfindet. Kurz: Bei der Anwendung dieser Leitlinien auf konkrete Situationen sind Urteilsvermögen und Sensibilität gefordert.

Definition

Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).

Leitlinien

A

Allgemein

  1. Es ist rassistisch, zu essentialisieren (eine Charaktereigenschaft als
    angeboren zu behandeln) oder pauschale negative Verallgemeinerun­gen über eine bestimmte Bevölkerung zu machen. Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.
  2. Das Spezifikum des klassischen Antisemitismus ist die Vorstellung,
    Jüd:innen seien mit den Mächten des Bösen verbunden. Dies steht im Zentrum vieler antijüdischer Fantasien, wie etwa der Vorstellung ei­ner jüdischen Verschwörung, in der „die Juden“ eine geheime Macht besäßen, die sie nutzen, um ihre eigene kollektive Agenda auf Kos­ten anderer Menschen durchzusetzen. Diese Verknüpfung zwischen Jüd:innen und dem Bösen setzt sich bis heute fort: in der Fantasie, dass „die Juden“ Regierungen mit einer „verborgenen Hand“ kont­rollieren, dass sie die Banken besitzen, die Medien kontrollieren, als „Staat im Staat“ agieren und für die Verbreitung von Krankheiten (wie etwa Covid-19) verantwortlich sind. All diese Merkmale können für unterschiedliche (und sogar gegensätzliche) politische Ziele ins­trumentalisiert werden.
  3. Antisemitismus kann sich in Worten, Bildern und Handlungen mani-
    festieren. Beispiele für antisemitische Formulierungen sind Aussa­gen, dass alle Jüd:innen wohlhabend, von Natur aus geizig oder un­patriotisch seien. In antisemitischen Karikaturen werden Jüd:innen oft grotesk, mit großen Nasen und in Verbindung mit Reichtum dar­gestellt. Beispiele für antisemitische Taten sind: jemanden angreifen, weil sie oder er jüdisch ist, eine Synagoge angreifen, Hakenkreuze auf jüdische Gräber schmieren oder Menschen aufgrund ihrer Zugehörig­keit zum Judentum nicht einzustellen oder nicht zu befördern.
  4. Antisemitismus kann direkt oder indirekt, eindeutig oder verschlüsselt
    (‚kodiert‘) sein. Zum Beispiel ist „die Rothschilds kontrollieren die Welt“ eine kodierte Behauptung über die angebliche Macht „der Ju­den“ über Banken und die internationale Finanzwelt. In ähnlicher Weise kann die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses eine kodierte Ausdrucksweise sein, Jüd:innen zu rassifizieren und zu stigmati­sieren. In vielen Fällen ist die Identifizierung von kodierter Sprache eine Frage des jeweiligen Kontextes und der Abwägung, bei der diese Leitlinien zu berücksichtigen sind.
  5. Es ist antisemitisch, den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen,
    indem man behauptet, der vorsätzliche Völkermord der Nazis an den Jüd:innen habe nicht stattgefunden, es habe keine Vernichtungsla­ger oder Gaskammern gegeben oder die Zahl der Opfer bestehe nur in einem Bruchteil der tatsächlichen Anzahl.

    B.

    Israel und Palästina: Beispiele, die als solche antisemitisch sind

  6. Die Symbole, Bilder und negativen Stereotypen des klassischen Anti-
    semitismus (siehe Leitlinien 2 und 3) auf den Staat Israel anzuwenden.
  7. Jüd:innen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen
    oder sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agent:innen Israels zu behandeln.
  8. Menschen, weil sie jüdisch sind, aufzufordern, Israel oder den Zionis-
    mus öffentlich zu verurteilen (z.B. bei einer politischen Versammlung).
  9. Anzunehmen, dass nicht-israelische Jüd:innen, bloß weil sie jüdisch
    sind, zwangsläufig loyaler zu Israel stehen als zu ihren eigenen Ländern.
  10. Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.

    C.

    Israel und Palästina:Beispiele, die nicht per se antisemitisch sind (unabhängig davon, ob man die Ansicht oder Handlung gutheißt oder nicht)

  11. Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtig-
    keit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürger­lichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind.
  12. Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalis-
    mus oder das Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu un­terstützen, die allen Bewohner:innen „zwischen dem Fluss und dem Meer“ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, ei­nem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.
  13. Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat. Dazu gehören seine Institu-
    tionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im West­jordanland und im Gazastreifen, die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst. Es ist nicht per se antisemitisch, auf syste­matische rassistische Diskriminierung hinzuweisen. Im Allgemeinen gelten im Falle Israels und Palästinas dieselben Diskussionsnormen, die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten. Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedler­kolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.
  14. Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie
    Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.
  15. Politische Äußerungen müssen nicht maßvoll, verhältnismäßig, ge-
    mäßigt oder vernünftig sein, um nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Menschenrechtsabkom­men geschützt zu sein. Kritik, die von manchen als übertrieben oder umstritten oder als Ausdruck „doppelter Standards“ betrachtet wird, ist nicht per se antisemitisch. Im Allgemeinen ist die Trennlinie zwi­schen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen.

JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS

Fragen und Antworten

Was ist die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA)?

Die JDA ist eine Ressource zur Stärkung des Kampfes gegen Antisemitismus. Sie umfasst eine Präambel, eine Definition und 15 Leitlinien.

Wer hat sie verfasst?

Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen mit Schwerpunkten in der Antisemitismusforschung und ver­wandten Bereichen. Die JDA wird von einem breiten Spek­trum renommierter Wissenschaftler:innen und Institutslei­ter:innen in Europa, den USA und Israel unterstützt.

Warum „Jerusalem“?

Die JDA geht ursprünglich auf eine Konferenz am Van Leer Institut in Jerusalem zurück.

Warum jetzt?

Die JDA reagiert auf die Arbeitsdefinition Antisemitis­mus, die die International Holocaust Remembrance Al­liance (IHRA) 2016 vorgelegt hat. Die „IHRA-Definition“ (einschließlich ihrer „Beispiele“) ist weder klar noch ko­härent. Was auch immer die Absichten ihrer Befürworter sein mögen, sie verwischt den Unterschied zwischen anti­semitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel und am Zionismus. Dies führt zu Irritationen und delegitimiert gleichzeitig die Stimmen von Palästinenser:innen und
anderen, einschließlich Jüd:innen, die sehr kritische An­sichten über Israel und den Zionismus haben. Nichts davon trägt zur Bekämpfung von Antisemitismus bei. Die JDA
reagiert auf diese Situation.

Ist die JDA also als Alternative zur Arbeitsdefi­nition der IHRA gedacht?

Ja, das ist sie. Menschen, die guten Willens sind, suchen nach Orientierung in der Schlüsselfrage: Wann überschrei­tet die politische Rede über Israel oder Zionismus die Gren­ze zum Antisemitismus und wann sollte sie geschützt wer­den? Die JDA soll diese Orientierungshilfe bieten und sollte daher als Ersatz für die IHRA-Definition angesehen werden. Wenn eine Organisation jedoch die IHRA-Definition formell übernommen hat, kann sie die JDA nutzen, um die Unzu­länglichkeiten der IHRA-Definition zu korrigieren.

Für wen gilt die Definition?

Die Definition gilt unabhängig davon, ob jüdische Identi­tät ethnisch, biologisch, religiös, kulturell usw. verstan­den wird. Sie ist auch in Fällen anwendbar, in denen eine nichtjüdische Person oder Institution entweder fälschli­cherweise für jüdisch gehalten wird („Diskriminierung auf­grund der Wahrnehmung“) oder wegen einer Verbindung zu Jüd:innen angegriffen wird („Diskriminierung aufgrund von Assoziation“).

Sollte die JDA offiziell z.B. von Regierungen, politischen Parteien oder Universitäten über­nommen werden?

Die JDA kann als Ressource für unterschiedliche Zwecken genutzt werden. Dazu gehören die Aufklärung darüber und die Schaffung eines Bewusstseins dafür, wann Sprache oder Verhalten antisemitisch sind (und wann nicht), die Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung von Antise­mitismus usw. Sie kann genutzt werden, um im vorgege­benen Rahmen von Gesetzen und Normen zum Schutz der Meinungsfreiheit bei der Umsetzung von Antidiskriminie­rungsgesetzen zu helfen.

Sollte die JDA als Teil von Gesetzen gegen Hassrede genutzt werden?

Nein, das sollte sie nicht. Sie ist keinesfalls als rechtliches oder quasi-rechtliches Instrument gedacht. Noch sollte sie rechtlich kodifiziert oder dazu genutzt werden, um die le­gitime Ausübung der Freiheit von Forschung und Lehre zu beschränken oder um freie und offene Debatten innerhalb der durch die Gesetze zur Hasskriminalität vorgegebenen Grenzen zu unterdrücken.

Wird die JDA alle aktuellen Auseinanderset­zungen darüber, was antisemitisch ist und was nicht, beilegen?

Die JDA spiegelt klar die fachliche Autorität wissenschaft­licher Expert:innen aus den relevanten Feldern wider, doch kann sie nicht alle Streitpunkte beseitigen. Kein Dokument über Antisemitismus kann erschöpfend sein oder alle For­men vorwegnehmen, in denen sich Antisemitismus in der Zukunft manifestieren wird. Einige Leitlinien (z.B. Nr. 5) ge­ben nur wenige Beispiele, um einen allgemeinen Aspekt zu verdeutlichen. Die JDA ist als Nachdenk- und Diskussions­hilfe gedacht. Als solche ist sie eine wertvolle Ressource für Beratungen unter Stakeholder:innen/Interessensgruppen darüber, wie Antisemitismus zu identifizieren und wie ihm möglichst effektiv zu begegnen ist.

Warum geht es in 10 der 15 Leitlinien um Israel und Palästina?

Das spiegelt die Gewichtung in der IHRA-Definition wider, in der 7 von 11 „Beispielen“ sich auf die Debatte über Is­rael konzentrieren. Es reagiert zudem auf eine öffentliche Debatte, sowohl unter Jüd:innen als auch in der breiteren Bevölkerung, die ein Bedürfnis nach Orientierung in Bezug auf Meinungsäußerungen über Israel oder den Zionismus aufzeigt: Wann sollten sie geschützt sein und wann über­schreiten sie die Grenze zum Antisemitismus?

Was ist mit anderen Kontexten außer Israel und Palästina?

Die allgemeinen Leitlinien (1-5) sind auf alle Kontexte anwendbar, einschließlich des rechtsextremen, in dem Antisemitismus zunimmt. Sie sind zum Beispiel auf Ver­schwörungstheorien anwendbar, dass „die Juden“ hinter der Covid-19-Pandemie steckten oder dass George Soros die Black-Lives-Matter- und Antifa-Proteste finanziere, um „verborgene jüdische Absichten“ zu verfolgen.

Unterscheidet die JDA zwischen Antizionismus und Antisemitismus?

Diese beiden Konzepte unterscheiden sich grundsätzlich. Nationalismus, jüdischer oder sonstiger, tritt in vielen For­men auf, steht aber immer zur Diskussion. Intoleranz und Diskriminierung, ob gegen Jüd:innen oder irgendjemand anderes, sind nie akzeptabel. Das ist ein Axiom der JDA.

Geht also aus der JDA hervor, dass Antizionis­mus nie antisemitisch ist?

Nein. Die JDA versucht zu klären, wann Kritik an (oder Feindseligkeit gegenüber) Israel oder dem Zionismus die Grenze zum Antisemitismus überschreitet und wann nicht. In diesem Zusammenhang ist es ein wichtiges Merkmal der JDA, dass sie (anders als die IHRA-Definition) auch angibt, was nicht per se antisemitisch ist.

Welche politischen Absichten liegen der JDA in Bezug auf Israel und Palästina zugrunde?

Keine. Genau darum geht es. Die Unterzeichnenden ha­ben vielfältige Ansichten zum Zionismus und zum israe­lisch-palästinensischen Konflikt, einschließlich möglicher politischer Lösungen, zum Beispiel Ein-Staaten- oder Zwei-Staaten-Lösung. Gemeinsam ist ihnen der Einsatz für zwei Dinge: den Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz der Meinungsfreiheit auf der Grundlage universeller Prin­zipien.

Aber unterstützt die Leitlinie 14 nicht BDS als gegen Israel gerichtete Strategie oder Taktik?

Nein. Die Unterzeichnenden haben unterschiedliche An­sichten zu BDS. Leitlinie 14 besagt nur, dass gegen Israel ge­richtete Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen, wenn­gleich umstritten, nicht per se antisemitisch sind.

Wie kann man dann entscheiden, wann BDS (oder irgendeine andere Maßnahme) antisemi­tisch ist?

Dafür gibt es die allgemeinen Leitlinien 1 bis 5. In manchen Fällen ist offensichtlich, wie sie anzuwenden sind, in an­deren nicht. Wie immer kann der Kontext bei der Einschät­zung des Charakters jeglicher Form von Intoleranz oder Diskriminierung einen erheblichen Unterschied machen. Zudem sollte jede Leitlinie im Lichte der anderen gelesen werden. Manchmal ist eine Ermessensentscheidung zu tref­fen. Die 15 Leitlinien sollen dabei helfen.

Laut Leitlinie 10 ist es antisemitisch, „Jüd:innen
im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollek­tiv und individuell als Jüd:innen zu leben“? Wi­derspricht das nicht den Leitlinien 12 und 13?

Es besteht kein Widerspruch. Die in Leitlinie 10 erwähnten Rechte haben jüdische Einwohner:innen des Staates, un­abhängig von seiner Verfassung oder seinem Namen. Leit­linien 12 und 13 stellen nur klar, dass es nicht per se anti­semitisch ist, andere politische oder verfassungsrechtliche Regelungen vorzuschlagen.

Was sind, kurz zusammengefasst, die Vorteile der JDA gegenüber der IHRA-Definition?

Es gibt mehrere, darunter:

  • Die JDA profitiert von mehreren Jahren der Reflexion und
    kritischen Bewertung der IHRA-Definition. Im Ergebnis ist sie klarer, kohärenter und nuancierter.
  • Die JDA führt nicht nur aus, was antisemitisch ist, son-
    dern auch, im Kontext von Israel und Palästina, was nicht per se antisemitisch ist. Dies ist eine Orientierungshilfe, für die es großen Bedarf gibt.
  • Die JDA beruft sich auf universelle Prinzipien und verbin-
    det den Kampf gegen Antisemitismus, anders als die IH­RA-Definition, klar mit dem Kampf gegen andere Formen der Intoleranz und Diskriminierung.
  • Die JDA trägt dazu bei, einen Raum für die offene und res-
    pektvolle Diskussion schwieriger Themen zu schaffen, einschließlich der umstrittenen Frage der politischen Zu­kunft für alle Bewohner:innen Israels und Palästinas.
  • Aus all diesen Gründen ist die JDA stichhaltiger. Anstatt
    zu spalten zielt sie darauf ab, alle Kräfte im Kampf gegen Antisemitismus breitestmöglich zu vereinen.

 

 

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