Ulrich Duchrow: Rezension „Wir waren Kirche inmitten der Armen“

Wer einen der Hauptgründe verstehen will, warum heute – vergleichbar allen lateinamerikanischen Ländern – 30% der Bevölkerung Brasiliens zu den evangelikalen und neupfingstlerischen Gemeinschaften, also der Wählerschaft eines Bolsonaro, gehören, muss dieses Buch lesen. Es beschreibt die beeindruckende Geschichte, wie angesichts der auf soziale Gerechtigkeit zielenden Politik des demokratisch gewählten Präsidenten von Chile, Salvador Allende, innerhalb der Kirche und Ordensgemeinschaften sich Kräfte organisieren, um mit den ArbeiterInnen, den BewohnerInnen der Armenviertel (poblaciones) und den linken Parteien gemeinsam für das Gelingen dieses demokratisch-sozialistischen Projekts zu kämpfen. Aber sie erhielten nicht die Unterstützung der Mehrheit der katholischen Hierarchie. Sie distanzierten sich von dieser Revolution, Teile begrüßten sogar den dann folgenden Putsch durch Pinochet. So wurde die Chance der Kirche vertan, an der Seite der Masse der Bevölkerung zu stehen. Das nutzten dann eben die Evangelikalen.
In den in Chile einmalig dramatischen Jahren 1971-73 formierte sich die Bewegung Christen für den Sozialismus (Cristianos por el Socialismo/CPS). Anhand ihrer Geschichte entfaltet das Buch die Chance und den Niedergang der befreiungstheologischen Bemühungen nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika. Sie waren ermutigt worden durch das 2. Vatikanische Konzil und das daran anschließende berühmte Treffen der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellin 1968, das die Kirche zur Option für die Armen verpflichtete. Dem aber war die Bischofskonferenz in Chile nicht gefolgt.

CPS hatte einen Vorläufer in der „Gruppe der 80“, richtete 1971 ein Büro in Santiago und später auch an weiteren Orten ein und begann Erziehungsmaterial und Treffen zu organisieren. Das erste gesamtlateinamerikanische Treffen fand 1972 statt. Inhaltlich war ihr Hauptziel, innerhalb und außerhalb der Kirche klarzustellen, dass Christsein und der Kampf an der Seite der ausgebeuteten Arbeitenden und Armen für Gerechtigkeit, keinen Widerspruch darstellt, sondern die Botschaft Jesu am ehesten mit sozialistischen Zielen übereinstimmt, aber in direktem Gegensatz zum Kapitalismus steht. Insbesondere versuchte sie, den reformistischen sogenannten „Dritten Weg“ zu dekonstruieren, den die katholische Hierarchie und die Democracia Cristiana auf der Basis der katholischen Soziallehre vertraten. Dabei war die Eigentumsfrage der springende Punkt für die bürgerliche Kirche. Außerdem ignorierte diese, dass der Klassenkampf von oben bittere Realität war. Stattdessen warf sie den engagierten ChristInnen vor, Klassenkampf (von unten) sei mit der christlichen Nächstenliebe nicht vereinbar.

Das Buch verschweigt nicht, dass innerhalb der Bewegung der ChristInnen für den Sozialismus durchaus verschiedene Richtungen miteinander stritten. Es ging dabei vor allem darum, ob sie sich eher in dem Parteienbündnis von Allendes Unidad Popular und den Gewerkschaften engagieren sollten oder in den Massenbewegungen in den Poblaciones der Armen (Lumpenproletariat). Michael Ramminger macht es plausibel, dass die Stärke von CPS gerade darin bestand, die verschiedenen Gruppen der Linken zusammenzuhalten. Das war insofern direkt politisch relevant, weil Allende nicht nur gegen Rechts kämpfen, sondern sich auch gegenüber einer radikalerenLinken erwehren musste. Übrigens trafen sich VertreterInnen von CPS auch mehrfach mit dem Präsidenten und einmal mit Fidel Castro. Auch auf den nationalen und internationalen Treffen nahmen Regierungsmitglieder teil.

Bemerkenswert an dem Buch ist auch die Dokumentation. Hier werden Erklärungen, BriefeEinschätzungen erschlossen, die sonst kaum erreichbar wären. Überhaupt ist die Sorgfalt und Differenziertheit der gut lesbaren Darstellung hervorzuheben. Dabei ist deutlich, dass der Autor sich mit den Kämpfen von damals identifiziert, weil heute die Systemfrage dringender denn je gestellt ist. Angesichts der Tatsache, dass die sozialen, ökologischen und Gesundheitskrisen heute geradezu danach schreien, den Kapitalismus zu überwinden, stellt der demokratische Sozialismus der Allendezeit eine „gefährliche Erinnerung“ dar – gefährlich für die, die vom Status quo profitieren. Ihm kann man nicht die sowjetische Verkehrung des Sozialismus ins Diktatorische vorwerfen und damit für heute irrelevant erklären. Er scheiterte nicht an sich selbst, sondern er musste – analog dem Sozialismus mit menschlichem Gesicht 1968 im Prager Frühling – mit direkter Gewalt zerstört werden. Diese Gewalt brachte auch einigen der Christen für den Sozialismus das Martyrium, war insgesamt also auch eine Christenverfolgung.

Hier fragt man sich, warum der Autor nicht darauf eingeht, dass es ja nicht allein Pinochet und Teile des chilenischen Militärs waren, die Allende mit Mord und Totschlag stürzten und das alternative Projekt zerstörten, sondern mit ihm die USA (Kissinger). Dann hätte man auch noch darauf hinweisen können, dass es Pinochet war, der als erster den neoliberalen Kapitalismus 1:1umsetzte (1975 berief er den Chicago Ökonomen Milton Friedmann zu diesem Zweck), bevor Reagan in den USA, Thatcher in Großbritannien, Kohl in Deutschland ihn im Westen einführten – die Voraussetzung für seine Globalisierung. So würde noch deutlicher, dass die Ereignisse in Chile auch weltgeschichtlich und für den heutigen Kampf gegen eine Wirtschaft, die tötet (Papst Franziskus), eine hohe Bedeutung haben.

RAMMINGER, Michael: “ Wir waren Kirche inmitten der Armen“. Das Vermächtnis der Christen für den Sozialismus in Chile von 1971-1973.
Münster: Edition ITP-Kompass Bd. 29, 2019.

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