Rosa Luxemburgs Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Bemerkungen zu einem vergessenen Fall

von Holger Politt

Mit dem Antisemitismus setzte sich Rosa Luxemburg öffentlich nur ungerne auseinander. Die Haltung in dieser Frage hatte verschiedene Gründe, wobei wohl schließlich entscheidend war, dass sie öffentliche Äußerungen solchen falschen Bewusstseins für eine Frage hielt, die innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung vollständig überwunden sei. Als gutes Beispiel mag ihre Einschätzung der Revolution von 1905/06 im Russischen Reich gelten, weil sie mit Stolz darauf verwiesen hatte, dass die Zarenregierung bei regelmäßigen Versuchen, die Reihen der kämpfenden Industriearbeiter mit dem Gift des Judenhasses zu infizieren, nicht durchgekommen sei.[1] „Unser Proletariat“, so schrieb sie in einem polnischen Beitrag aus dieser Zeit, „muss als eine Klasse, die […] zur Mission der Aufhebung des ganzen bestehenden Systems berufen ist, […] die Unterdrückung der Nationalitäten als eine brennende Wunde, als Schande empfinden, und empfindet es auch so, wobei tatsächlich dieses Unrecht nur ein Tropfen im Meer des ganzen gesellschaftlichen Elends, der politischen Benachteiligung, der geistigen Entrechtung ist, die zum Schicksal des kapitalistischen Lohnarbeiters in der heutigen Gesellschaft geworden sind.“[2]

Allerdings hatte sich Rosa Luxemburg wenigstens einmal öffentlich und über mehrere Wochen und Monate hinweg mit der Frage des Antisemitismus auseinandergesetzt, wobei diese zumeist polnisch geschriebenen Beiträge ihrer Feder aus dem Herbst 1910 und vom Februar 1911 bis heute eher stiefmütterlich behandelt werden, nahezu vergessen scheinen, wohl auch deshalb, weil sowohl der Anlass als auch die spezifischen Hintergründe heute nur noch schwer zu verstehen bzw. zu rekonstruieren sind. Rosa Luxemburg selbst trug sich übrigens schwer an dieser Art Polemik, die ihr als eine völlig unerquickliche Sache galt: „Mir hängen solche Themen zum Halse heraus, und ich schreibe dafür lieber drei sachliche Artikel. Wenn es irgendwie möglich ist, bitte ich sehr, mich von diesem Thema zu befreien.“[3] Dennoch blieb sie bei der Fahne, schrieb für den Redakteur Leo Jogiches gleich mehrere grundsätzliche Beiträge, die aus heutiger Sicht gleichermaßen den Grundstock dessen ausmachen, was Rosa Luxemburg über den Antisemitismus geschrieben hat.[4]

Der vergessene Fall

Rosa Luxemburg und Leo Jogiches kannten sich bereits fast zwei Jahrzehnte lang, waren zudem von 1891 (oder 1892) bis 1907 ein Liebespaar, blieben auch nach der persönlichen Trennung in den politischen Dingen eng verbunden und vertrauten sich auf diesem Feld bis in die letzten Winkel. Beide hatten zusammen mit Adolf Warski und Julian Marchlewski im Sommer 1893 in Zürich die erste sozialdemokratische Arbeiterpartei im Zarenreich gegründet – die Sozialdemokratie des Königreichs Polen (SDKP, später Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens, abgekürzt SDKPiL). Innerhalb der polnischen Arbeiterbewegung setzten die Sozialdemokraten aus dem Königreich Polen auf die kommende politische Revolution im Zarenreich, die eine Republik konstituieren und politische Verhältnisse durchsetzen werde, wie sie anderswo im westlichen Europa bereits durch die Klassenkämpfe im 19. Jahrhundert unter teils hohe Opfern durchgesetzt worden waren. Ihre Gegner in den Reihen der Arbeiterbewegung hingegen setzten auf die nationale Unabhängigkeit – auf die Wiederherstellung Polens, wie es damals hieß. Die sei die beste Voraussetzung, um künftig den Weg in den Sozialismus einschlagen zu können. Doch die politische Revolution im Zarenreich brach zuerst aus und bestätigte in beeindruckender Weise die politische Strategie der SDKPiL, der Partei von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches: Die Arbeiter in den Industriezentren Polens, in Warschau und Łódź vor allem, kämpften gemeinsam mit den Klassenbrüdern in den russischen Industriezentren unter der gemeinsamen roten Fahne für den Sturz der Zarenherrschaft, nicht unter dem polnischen weiß-roten Nationaltuch für die Absonderung und Unabhängigkeit Polens. Einen größeren politischen Triumph konnten Rosa Luxemburg und Leo Jogiches zeitlebens nicht mehr vorweisen.

Die Niederschlagung der Arbeiterrevolution von 1905/06, in der die politischen Forderungen an erster Stelle standen, bedeutete zugleich eine dramatische Niederlage für die Luxemburg-Richtung. Allerdings erhob sich in den polnischen Industriezentren im Zarenreich im Frühjahr 1910 wiederum eine größere Streikwelle – im Kern mit sozialen Forderungen. In bürgerlichen Kreisen wurde schnell befürchtet, diese Streiks könnten wieder wie fünf Jahre zuvor zur gewaltigen revolutionären Welle mit politischer Ausrichtung aufsteigen. Die politischen Massenstreiks in den Industriezentren im zum Zarenreich gehörenden Teil Polens waren insbesondere in der ersten Phase der Revolution überhaupt das wirksamste Kampfmittel gewesen, auf die sich die Zarenregierung zunächst keinen rechten Rat wusste. Doch 1910 kam es nicht zum Ausbruch neuer revolutionärer Unruhen, die Niederlage lähmte die Arbeiterbewegung noch immer, die tobende Konterrevolution hatte zudem nach 1907 ganze Arbeit geleistet.

In dieser Situation wurde in einem bis dahin liberal ausgerichteten Milieu im Königreich Polen eine gleichermaßen heftige wie schmutzige Kampagne losgetreten, in deren Kern es um die Frage ging, wer eigentlich die polnischen Arbeiter führen, wer überhaupt in ihrem Namen auftreten dürfe. Gezielt wurde auf die SDKPiL, weil als politische Führung Rosa Luxemburg und Leo Jogiches ausgemacht werden konnten. Herzstück der intellektuellen antisemitischen Hetzjagd war das von Andrzej Niemojewski herausgegebene führende intellektuelle Periodikum der Freidenkerrichtung „Myśl Niepodległa“ (Unabhängiges Denken). Zunächst hatte sich Rosa Luxemburg zurückgehalten – in der von Leo Jogiches redigierten Presse der polnischen Sozialdemokraten aus dem Zarenreich befassten sich andere mit dem Vorgang. Erst als Niemojewski versuchte, über das Parteiblatt „Vorwärts“ Einfluss auf die SPD zu nehmen, um deren Mitglied Rosa Luxemburg für das polenfeindliche Treiben in der polnischen Arbeiterbewegung anzuprangern, und nachdem er zum direkten Angriff auf die Personen von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches wegen der jüdischen Herkunft übergegangen war, griff auch sie zur Feder.

Niemojewski griff Rosa Luxemburg auf diese Weise an: „Die Vorfahren der Dame haben Schnaps ausgeschenkt – an das polnische Volk. Rosa Luxemburg schenkt bereits keinen Schnaps mehr aus, doch das, was sie dem Volk in Form von Artikeln und Broschüren zum Austrinken gibt, hat alle Kennzeichen literarischen Fusels.“[5] Gegen Leo Jogiches gebrauchte Niewojewski einen Mann, der ihm so etwas wie ein Kronzeuge der Anklage gewesen war. Julian Unszlicht war einst selbst SDKPiL-Mitglied gewesen, außerdem jüdischer Herkunft und hatte während der Revolution in Warschau gewirkt. Er musste schließlich aus Russland fliehen, wechselte die Seiten und war nun während der antisemitischen Kampagne gegen die SDKPiL Niemojewskis wichtigster Stichwortgeber, sobald es gegen die Führung der Partei, also gegen Rosa Luxemburg und insbesondere Leo Jogiches ging. Nur wenige in der SDKPiL hatten persönliche Kontakte mit dem Mann, der die Partei in den Revolutionstagen zwar politisch führte, doch stets im Hintergrund zu bleiben verstand und in den konspirativen Dingen erneut seine Meisterschaft ausspielen konnte. Nun hatte Niewojewski Informationen erster Hand, sah darin den Beweis geliefert, dass sein Programm der „Entjudung des polnischen Sozialismus“ der richtige Kurs sei. Um sich als ein Fortschrittsmann abzusichern, als der er in der Öffentlichkeit weiterhin gelten wollte, sprach er außerdem von einem „fortschrittlichen Antisemitismus“, der lediglich angewendet werde, um den Sozialismus in Polen vor der sogenannten Verjudung und dem Aufgehen in den russischen Verhältnissen zu bewahren.

Leo Jogiches stammte aus Wilna (Vilnius), die in seinen Jugendjahren eine jüdisch-polnische Stadt gewesen war, die auch regelmäßig als das Jerusalem des Nordens apostrophiert wurde. In jungen Jahren musste er fliehen, um der drohenden Verhaftung zu entgehen, und kam schließlich nach Zürich, wo er Rosa Luxemburg kennenlernte. Die Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches aus der Züricher Zeit sind bis auf wenige Ausnahmen polnisch verfasst, so dass angenommen werden kann, in welcher Sprache sich die beiden miteinander verständigt hatten. Rosa Luxemburg, das wird aus den Briefen an Jogiches deutlich, legte ausdrücklichen Wert darauf, dass er sich als ein Polen verstehe, also müsse er auch sauberes Polnisch schreiben. In Wilna war Russisch die erste Sprache des jungen Jogiches gewesen, in den Briefen kritisierte sie mehrmals seine Russizismen, wenn Jogiches polnisch an sie geschrieben hatte.

Dem Antisemiten Niemojewski nun galt Jogiches als ein dem Polentum feindlicher Eindringling. Ursprünglich hatten Warschauer Juden die jüdischen Ankömmlinge aus Litauen und Russland abschätzig als Litwaken bezeichnet, weil sie als lästige Konkurrenz auf dem ohnehin umkämpften Markt und überhaupt als Leute angesehen wurden, die zusätzliche Unruhe in die halbwegs verlässliche Ordnung hineinbrachten. Nun nutzte Niemojewski diesen Begriff in seiner Kampagne, denn sein Kronzeuge Julian Unszlicht steigerte den Ausdruck, sprach von einem gefährlichen Soziallitwakentum, also von aus dem Osten nach Polen kommenden und Unruhe säenden Juden, die hier ihrer Art von Sozialismus betrieben. Zum Synonym für diejenigen, die an der Weichsel solches Unwesen trieben, wurden die SDKPiL und insbesondere der legendenumwobene Leo Jogiches, der geheimnisvolle, weil unbekannte Diktator der Revolution. Die SDKPiL, so Julian Unszlicht im Ton der Anklage, habe in der Revolution 1905/06 das polnische Proletariat zur Schlachtbank geführt. Während Rosa Luxemburg wenigstens zu den polnischen Juden gezählt werden dürfe, spielten bei Jogiches bereits völlig fremde, in jeder Hinsicht nichtpolnische Interessen hinein, die nun seit einigen Jahren der polnischen Arbeiterschaft aufgebürdet würden. Und schließlich sollte nach Berlin oder Wien in die einflussreichen sozialdemokratischen Parteien im Westen kolportiert werden, dass die Luxemburg-Leute in Polen eigentlich keine Sozialdemokraten seien, sondern diesen Namen lediglich usurpiert hätten.

Bemerkungen zum Kontext

Die acht polnischen Texte Rosa Luxemburgs, die im Herbst 1910 und im Februar 1911 in Absprache mit Jogiches verfasst und in der SDKPiL-Presse in Polen veröffentlicht wurden,  sind jener Teil des Werkes, an dem am besten untersucht werden kann, wie sie grundsätzlich zum Antisemitismus gestanden hatte. Zusammenfassend schrieb sie im Februar 1911: „Der Antisemitismus ist überhaupt eine Erscheinung, die in verschiedenen kapitalistischen Ländern grassiert. Er ist […] eine Erscheinung reaktionärer Verrohung. Im Interesse der Arbeiterklasse und ihrer Befreiung liegen der Zusammenschluss und die Verbrüderung aller Ausgebeuteten zum gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeuter, welcher Nationalität oder Glaubensrichtung auch immer sie zugehören mögen. Deshalb spielt die Aufwiegelung zum Rassen- und nationalen Hass, um den polnischen Arbeiter vom jüdischen oder russischen Arbeiter zu entzweien, allein den Ausbeutern in die Hände. Besonders bei uns in Polen und in Russland kann ganz klar gesehen werden, wer das Schüren der Hetze gegen die Juden für nötig hält. Niemand anders als die Zarenregierung hat in der Zeit der Revolution durch bezahlte Agenten die Judenpogrome veranstaltet, um die Aufmerksamkeit des Volkes von sich abzulenken, um den Hass […] auf die jüdischen Habenichtse zu lenken. In Russland hat sie als Werkzeug dafür den Abschaum der Gesellschaft, den düsteren Pöbel benutzt, dem es durch seine Agenten einzureden suchte, die ,Judenʽ hätten ,die Revolution vom Zaun gebrochenʽ, und der für ein Gläschen Schnaps über die wehrlose jüdische Bevölkerung herfiel. Bei uns in Polen war das der Regierung im Jahre 1881 auch gelungen, als Warschau zum Schauplatz eines abscheulichen Judenpogroms wurde. Doch 1905 war das Arbeitervolk durch den Sozialismus bereits soweit aufgeklärt, dass die teuflischen Machenschaften der Zarenregierung schon im Keim erstickt werden konnten. Sobald sich in der Menge ein Agent zeigte, der gegen Juden aufwiegelte, rechneten die Arbeiter im Schnellverfahren mit ihm ab […] So hatten die polnischen Arbeiter in der Zeit der Revolution unser Land vor der Pest des Antisemitismus bewahrt. Nun aber, fünf Jahre nach Ausbruch der Revolution, fand in Polen plötzlich ein wirklicher Judenpogrom statt, allerdings nicht auf der Straße, sondern in der Presse; und nicht etwa betrunkenes, vom Zarentum gekauftes Gesindel hat diesen Pogrom durchgeführt, nein, vielmehr einige polnische Schriftsteller, die sogenannte Intelligenz, mehr sogar, die fortschrittliche polnische Intelligenz. Nur ist jetzt sofort klargeworden, was eigentlich hinter dieser abscheulichen Hetze steht, die scheinbar gegen die Juden gerichtet ist. […] So wie die Zarenregierung […] den Leuten einzureden suchte, die ganze Revolution von 1905 sei ein ,Werk der Judenʽ, so begannen auch die polnischen fortschrittlichen Blätter ihren Angriff mit der Erklärung, die ganze Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens sei ,verjudetʽ, stelle nur eine Handvoll ,jüdischer Karrieristenʽ dar, die ihre Geschäfte auf dem Rücken polnischer Arbeiter machen wollten. Auch wenn in der SDKPiL, wie bekannt, der Prozentsatz von Juden sehr gering ausfällt, aus dem einfachen Grunde nämlich, weil die jüdischen Arbeiter ihre eigene Organisation haben, hat diese bewusste Lüge einer ,Verjudungʽ der Sozialdemokratie der bürgerlichen polnischen Intelligenz ausgereicht, so wie das gleiche Märchen dem trunkenen Pöbel in Kischinjow und Balta ausgereicht hatte.“[6]

Viele Tatsachen, die dem damaligen polnischen Leser geläufig waren, müssen dem heutigen Leser erklärt werden. Das erwähnte abscheuliche Pogrom Warschau begann, nachdem am 25. Dezember 1881 im Zentrum der Stadt bei einer Weihnachtsmesse eine Massenpanik ausbrach und auf den Treppenstufen der Kirche bis zu 20 Menschen zu Tode getrampelt wurden. Schnell machte das Gerücht die Runde, ein jüdischer Taschendieb habe absichtsvoll „Feuer“ gerufen, um in der aufgeregten Menschenmenge umso leichter seinen Beutezug durchführen zu können. Nur wenige Stunden später wurden die Glasscheiben jüdischer Geschäfte eingeschmissen, breiteten sich die judenfeindlichen Ausschreitungen über weite Teile der Stadt aus, wobei es auf dem rechten Weichselufer zu den schwersten Ausschreitungen kam. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere hundert jüdische Familien waren von den materiellen Schäden betroffen. Die Unruhen dauerten über die Weihnachtstage bis zum 27. Dezember an.[7] Es war das erste Pogrom auf polnischem Boden im Russischen Reich – und das letzte. Der politische Antisemitismus allerdings kochte nach der Revolution an verschiedenen Stellen hoch – Rosa Luxemburg bezeichnete den als ein intellektuelles Pogrom.

Mit der eigenen Organisation der jüdischen Arbeiter ist der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund (Bund) gemeint, der 1897 in Wilna gegründet worden war, der sich sozialdemokratisch verstand und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die jiddischsprechenden Arbeiter im Russischen Reich zu organisieren. Eines der wichtigsten Ziele des Bundes bestand in dem Kampf für eine nicht ans Territorium gebundene jüdische kulturelle Autonomie, um insbesondere das Jiddische gegenüber den beiden Assimilationssprachen Russisch und Polnisch aufzuwerten. Die Beziehungen zwischen der SDKPiL und dem Bund sind sehr komplexer Natur, die auf dem hier gegeben Platz nicht entsprechend dargestellt werden können. Rosa Luxemburg hatte sich zu diesem programmatischen Punkt der Bundisten in ihrer breit angelegten Arbeit „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (1908/09) unmissverständlich geäußert: „Die jüdische nationale Autonomie […] im Sinne einer politischen Selbstverwaltung der jüdischen Bevölkerung mit eigener Gesetzgebung und Verwaltung […] ist ein vollkommen utopischer Gedanke. […] Die Autonomie, die zusammen mit der lokalen Selbstverwaltung historisch auf dem Boden der modernen bürgerlich-demokratischen Entwicklung wächst, ist, genau wie der bürgerliche Staat, tatsächlich untrennbar mit einem bestimmten Territorium verbunden und lässt sich ohne dieses genauso wenig denken wie eine ,nichtterritorialeʽ Gemeinde- oder städtische Selbstverwaltung. Die jüdische Bevölkerung geriet im russischen Staat weitgehend in die Fänge der kapitalistischen Entwicklung und teilt in den entsprechenden Schichten die wirtschaftlichen, politischen und geistigen Interessen der verschiedenen Klassen  dieser Gesellschaft. Doch auf der anderen Seite haben sich auf das Territorium bezogen diese Interessen niemals in einem Umfang zu kapitalistischen Interessen der jüdischen Bevölkerung abgesondert – sie sind auf dem gesamten Staatsgebiet eher die gleichen wie bei der lokalen Bevölkerung anderer Nationalitäten. […] Deshalb äußert sich die nationale Besonderheit der Juden, die die Grundlage für eine nichtterritoriale jüdische Autonomie sein soll, nicht in Form einer besonderen bürgerlichen Großstadtkultur, sondern in Form kleinstädtischer Kulturlosigkeit. Natürlich fallen dabei die Anstrengungen für eine ,Entfaltung jüdischer Kulturʽ durch die Initiative einer Handvoll Publizisten und Übersetzer des Jiddischen nicht ins Gewicht. Der einzige Ausdruck wirklicher modernen Kultur auf jüdischem Grund – die sozialdemokratische Bewegung des jüdischen Proletariats – kann auf Grund ihrer Natur den historischen Mangel an bürgerlicher Nationalkultur bei den Juden nicht beheben, da sie im Kern selbst Ausdruck der internationalen und proletarischen Kultur ist.“[8]

Die beste zeitgenössische Einordnung des damaligen Geschehens aus Sicht der SDKPiL lieferte uns Julian Marchlewski, der Mitbegründer der Partei im Jahre 1893. Bereits 1913 hatte er eine bis heute nicht an Reiz verlorene Arbeit zu Antisemitismus und Arbeiter veröffentlicht, in der die Niemojewski-Kampagne einen entsprechenden Platz einnimmt und in der Beiträge Rosa Luxemburgs gebührend gewürdigt werden.[9] Marchlewski verwies auf die Verschiebungen des Kräfteverhältnisses innerhalb des bürgerlichen polnischen Lagers im Zarenreich, vor allem darauf, dass nach dem Ausbruch der Revolution von 1905 das nationaldemokratische Lager gegenüber dem liberalen Lager eindeutig in die Vorhand gekommen sei und die Meinungsführerschaft übernommen habe. Die Stärke des nationaldemokratischen Lagers habe auf Katholizismus und Nationalismus, gepaart mit politischem Antisemitismus beruht. Nun habe Niemojewski die Gleichung aufgestellt, dass der liberale Anspruch in Polen zwar mit dem Katholizismus nicht zu vereinbaren sei, doch warum sollte das Fortschrittslager es nicht mit antisemitischer Stimmung versuchen, um Zuspruch und Einfluss zurückzugewinnen! Hieraus sei das Konzept des „fortschrittlichen Antisemitismus“ entwickelt worden, das sich aber schnell selbst erledigt und blamiert habe.[10] Rosa Luxemburg hatte es so auf den Punkt gebracht: „Für das bewusste Proletariat gibt es heute die ,jüdische Frageʽ als eine Rassen- und Religionsfrage nicht“.[11] Diese entschiedene Haltung speiste sich auch aus der scharfen Kritik am linksliberalen Milieu im damaligen Polen, das als Reaktion auf Niemojewski nicht – wie Rosa Luxemburg es erwartet hatte – mit Abscheu und einem geistigen Standgericht reagiert hatte, sondern in den eigenen Blättern selbst zur „Diskussion der jüdischen Frage“ aufgerufen hatte.[12]

Schließlich sei an dieser Stelle auf die Zahlenverhältnisse im Königreich Polen hingewiesen, die noch einmal ein klärendes Licht aus anderem Winkel auf den Vorgang werfen.[13] Das zum Zarenreich gehörende Land hatte eine Fläche von 127.000 Quadratkilometern und 1909 eine Einwohnerzahl von 12 Millionen. Etwa 1,8 Millionen Menschen davon wurden zu den Juden gezählt – knapp 15 Prozent der Gesamteinwohnerzahl. In den beiden großen Industriestädten Warschau und Łódź wohnten über 20 Prozent aller Juden im Königreich Polen, in Warschau waren es 290.000 (37 Prozent aller Einwohner der Stadt), in Łódź 90.000 (23 Prozent aller Einwohner der Stadt). Warschau war damit zugleich die größte jüdische Gemeinde auf dem europäischen Kontinent. Überhaupt stellten Juden im Königreich Polen 40 Prozent der Stadtbevölkerung, wobei der Anteil in kleineren Städten auch deutlich höher sein konnte. Zur Jahrhundertwende arbeiteten im Königreich Polen knapp 600.000 Menschen in der Industrie, darunter annähernd ein Viertel Juden. Im Handel hingegen zählten drei Viertel der Beschäftigten zu den Juden.

Zusammenfassung:

Der Beitrag befasst sich mit einer Artikelserie Rosa Luxemburgs, die 1910 und 1911 in den von Leo Jogiches redigierten Blättern der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL) erschienen waren und sich mit einer antisemitischen Kampagne auseinandersetzten, in der vor einer „Verjudung“ des polnischen Sozialismus und der Arbeiterbewegung in Polen gewarnt wurde. Weil der Kontext heute nur noch schwer zu entschlüsseln ist, gelten diese Arbeiten zu den am wenigsten rezipierten im Werk Rosa Luxemburgs.

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[1] Zur Frage des politisch instrumentalisierten Antisemitismus im Zarenreich siehe: Sonja Striegnitz: Zur Herausbildung antisemitischer Positionen russischer „Rechter“ (Ende des 19. Jahrhunderts bis 1917), in: Ernstgert Kalbe/Wolfgang Geier/Volker Hölzer (Hrsg.): Die russische Revolution von 1905/07 – Generalprobe für 1917? Osteuropa in Tradition und Wandel. Leipziger Jahrbücher, Bd. 7(1), Leipzig 2005, S. 47–81.

[2] Rosa Luxemburg: Przedmowa [Vorwort], in: Kwestia polska a ruch socjalistyczny. Zbiór artykułów R. Luxemburg, K. Kautskiego, F. Mehringa, Parvusa i innych z przedmową R. Luxemburg i uwagami wydawców oraz dodatkiem [Polnische Frage und sozialistische Bewegung. Sammelband mit Beiträgen von R. Luxemburg, K. Kautsky, F. Mehring, Parvus und anderen, mit einem Vorwort von R. Luxemburg und Anmerkungen der Herausgeber sowie einer Beilage], Kraków 1905, S. XXIX.

[3] Brief an Leo Jogiches vom 20. Oktober 1910, in: Gesammelte Briefe (GB), Bd. 3, S. 246.

[4] Vgl. Rosa Luxemburg: Nach dem Pogrom. Texte über Antisemitismus 1910/11. Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Holger Politt, Potsdam 2014. In dem Vorwort dieser Ausgabe wurde irrtümlich nicht auf einen von Iring Fetscher herausgegebenen Sammelband verwiesen, in dem bereits drei Texte Rosa Luxemburgs aus dem Herbst 1910 übersetzt abgedruckt worden waren. Siehe: Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg 1974, S. 127–150.

[5] Andrzej Niemojewski: Zdeklasowani [Die Deklassierten], in: Myśl Niepodległa, Nr. 146, September 1910, S. 1265. Rosa Luxemburg hatte dieses Zitat in „Vorwärts“ im November 1910 etwas verändert wiedergegeben: „Ihre Vorfahren betrieben in Polen den Ausschank von Schnaps; sie selbst schenkt keinen Schnaps aus, aber das, was sie in Broschüren und Artikeln verzapft, hat alle Kennzeichen literarischen Fusels.“ In: Gesammelte Werke (GW), Bd. 7/2, S. 664.

[6] Rosa Luxemburg: Antisemitismus Arm in Arm mit dem Banditentum, in: Rosa Luxemburg: Nach dem Pogrom, a. a. O., S. 87 ff.

[7] Ausführlicher ist Elżbieta Ettinger darauf eingegangen. Vgl. Elżbieta Ettinger: Rosa Luxemburg. Ein Leben, Bonn 1990, S. 31.

[8] Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie. Herausgegeben und übersetzt von Holger Politt, Berlin 2012, S. 169 f.

[9] Julian Marchlewski: Antysemityzm a robotnicy [Antisemitismus und Arbeiter], Kraków und Chicago 1913.

[10] Ebenda, S. 61 ff.

[11] Vgl. Rosa Luxemburg: Nach dem Pogrom, a. a. O., S. 73.

[12] Rosa Luxemburg: „Diskussion”, in: Rosa Luxemburg: Nach dem Pogrom, a. a. O., S. 65–73.

[13] Vgl. Julian Marchlewski: Antysemityzm a robotnicy, a. a. O., S. 34 ff.

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