„Religion ist eine gesellschaftliche Realität, die der Staat nicht ignorieren kann. Andernfalls riskiert er die Verhärtung diskriminierender Strukturen, die Herausbildung geschlossener separater Milieus und gesellschaftliche Spaltungen“ (S. 144). Religionsfreiheit wird nichtsdestotrotz zum einen vielfach verletzt, zum anderen fehlinterpretiert – von Menschen unterschiedlichster politischer Ausrichtung. Beide Autoren haben langjährige internationale Erfahrungen zu diesem Thema und tragen daher mit ihrem Buch zur inhaltlichen Klarstellung dieses Menschenrechts und seinem Verhältnis zu anderen Rechten ebenso bei (um kaum einen anderen Bestandteil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sei im Vorfeld so heftig gerungen wurden, wie um Artikel 18), wie zur Analyse der vielfältigen konkreten gesetzlichen Regelungen und Pratiken in einzelnen Ländern.
Dabei gehen sie davon aus, dass gerade die Unsicherheit im Verständnis des Begriffs/des Menschenrechts Religionsfreiheit häufig das Engagement für die Umsetzung dieses Rechts hemmt oder abschwächt. Dies sei u.a. dadurch bedingt, dass viele Überblicksdarstellungen zur Genese der Menschenrechte hoffnungslos eurozentrisch seien (vgl. S. 29) und es werde zu wenig beachtet, dass das Menschenrechtsverständnis „work in progess“ sei (s. S. 33) . Insbesondere das Recht auf Religionswechsel stehe im Zentrum politischer und rechtlicher Auseinandersetzungen (vgl. S. 25). Reformbedarf gäbe es jedoch auch zur Religionsfreiheit von „domestic workers“ oder von Atheisten und Agnostikern sowie den Vorstellungen und Praktiken indigner Völker.
Nach der erfolgten Begriffsklärung (Kap. 2) geht es im nächsten Abschnitt unter der Überschrift „Freiheit zur Unfreiheit“ dezidiert um Konflikte zwischen unterschiedlichen Prinzipien (vor allem Freiheit und Gleichheit). Es wird nicht nur gezeigt, dass beides nicht Gegensätze, sondern zwei Seiten desselben Prinzips sind, sondern auch, dass ihr scheinbarer Gegensatz häufig „nur“ der Durchsetzung (religiöser) Machtinteressen dient. In einem weiteren Kapitel wird erläutert, warum Religionsfreiheit nicht zwingend einen säkularen Staat zur Voraussetzung hat und dies an Beispielen wie Kasachstan, Bangladesch und Dänemark illustriert.
Wichtigste Ausführung des nächsten Kapitels ist, dass heute „nicht mehr die traditionelle ideologische Gegnerschaft einer kommunistisch-theistischen Ideologie (im Vordergrund steht – V.S-L)… Treibendes Motiv hinter staatlichen Repressionsmaßnahmen ist heute vielmehr das Interesse an umfassender Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens – darunter auch des religiösen Lebens“ (S. 163). Insbesondere in Staaten, in denen sich die Opposition nicht offen artikulieren könne, werde befürchtet, dass sie dies unter „dem Deckmantel der Religionsfreiheit“ tun würde.
In nächsten beiden Kapiteln geht es an Hand von Beispielen (Religionsunterricht und Kriegsdienstverweigerung) um den Vergleich von Urteilen nationaler und internationaler Gerichte bzw. das Vermeiden von „Forum – Shopping“ zwischen Genf und Straßburg (UN – Menschenrechtsausschuss versus Europäischer Gerichtshof).
Bevor abschließend gegen eine „Sakralisierung“ der Menschenrechte argumentiert wird (Kap. 10) analysieren beide Autoren noch das Thema „Gewalt im Namen der Religion“ (Kap. 9).
Da gerade vor den Bundestagswahlen in Deutschland in vielen Parteien um das Verhältnis zur Religion bzw. religiösen Positionen gerungen wird, ist dieser Untersuchung zum Thema Religionsfreiheit als Menschenrecht eine breite Leserschaft zu wünschen.
Heiner Bielefeldt Michael Wiener Religionsfreiheit auf dem Prüfstand. Konturen eines umkämpften Menschenrechts. Transcript Verlag Bielfeld 2020, ISBN 978-3-8376-4997-0, 275 S.