Zur Aktualität des autoritären Charakter
Fast 100 Jahre liegen die ersten Arbeiten von Erich Fromm und Max Horkheimer zurück mit der die „Kristische Theorie“ entwickelt wurde. Welche sozialpsychologischen Verhältnisse begünstigen die Entwicklung des Faschismus und welche Charaktere waren hierfür maßgeblich. Ein Sammelband von Aufsätzen, die aus einer Veranstaltungsreihe des Rosa-Luxemburg-Clubs Trier entstanden ist, beschäftigt sich mit den verschiedenen Aspekten und versucht zu ergründen inwieweit der auatoritäre Charakter und seine Theorie heute noch aktuell sind oder welche Teile neu interpretiert, verworfen oder weiterentwickelt werden müssten. Dieser Sammelband kann beim Verbrecher-Verlag für 24 Euro erworben werden und hat einen Umfang von 424 Seiten.
Wer sich die Arbeit macht, durch den Fremdwort- und Fachbegriffsdschungel dieses Buches durch zu dringen, bekommt einen Einblick in die Bandbreite verschiedener Fragen und Verbindungen der jüngeren Forschung zum Autoritarismus. Ob die Annahmen der Urväter der Theorie heute noch zutreffen oder man heute von einem neuen Charakter sprechen muss, wird hierin ebenso kontrovers beleuchtet, wie die Erkenntnisse anderer Forschungen und Theorien auf diese. Ist die Rolle der Familie und hier die Autorität des Vaters früher und heute dafür verantwortlich, dass es eine andere psychologische Verarbeitung gibt, die einen Narzistischen Charakter herausbildet oder befördern Helikoptereltern nicht ebenso den autoritären Charakter, weil sie ebenfalls die Ausbildung eines eigenständigen selbstbestimmten Individuums behindern? Haben die Ohnmachtserfahrungen in unserer Gesellschaft deshalb schon abgenommen oder eine andere Qualität, weil Drill und militärische Hierarchien in Erziehung und der gesellschaftlichen Praxis abgenommen haben? Wird Arbeit als weniger drückend erfahren, weil die schwere körperliche Arbeit durch Maschinen erleichtert wird und insgesamt abnimmt oder führen Arbeitsverdichtung und Prekarisierung zu den gleichen psychischen Reaktionen wie die fordistische Arbeit am Fließband?
Die Leser:innen können sich hier eine eigene Meinung auf Grund der dargelegten Argumentionsstränge entwickeln und so eine eigene Position gewinnen.
„Die ‚Performer‘ (14,8 Prozent der Befragten) aus der Kategorie der ‚Demokraten‘ und die ‚Jungen Entgrenzten‘ (7,7 Prozent) aus der Kategorie der ‚Ambivalenten‘ werden durch die Überzeugung, ‚ihr Schicksal selbst in den Händen zu halten‘ die Betonung von Selbstbestimmung und persönliche Erfolge charakterisiert und weisen somit deutliche Merkmale der narzisstischen Charakters, wie sie etwa Eichler hausarbeitet, auf; auch ihre Harmoniebedürftigkeit beziehungsweise Tendenz zur Konfliktvermeidung lässt sich als Verhaltensweise zur Aufrechterhaltung des Scheins der Einheit zwischen sich und der Welt verstehen. Die ‚Jungen Entgrenzten‘ sind zugleich die am wenigsten autoritären Befragten, weisen aber hohe Werte bei den Items der Verrschwörungsmentalität auf – was an Adornos Beschreibung des oral-narzistischen ‚Spinners‘ erinnert.
Ihnen gegenüber erscheinen die ‚Konservativen‘ (14,8 Prozent) – das zweite ‚demokratische‘ Syndrom – sowie die ‚ambivalenten‘ ‚Stabilitätsorientierten‘ (10.9 Prozent) und ‚Angepassten‘ (9,6 Prozent) als ‚anpassungswillig‘ und auf Stabilität beziehungsweise Ordnung ausgerichtet. Sie weisen sozialen Normen hohe Bedeutung zu und sind zugleich durch ‚Fantasiearmut‘ und Durchschnittlichkeit in allen Belangen geprägt – alles Phänomen des konventionellen Charakters, dem entsprechend die drei ‚Syndorme‘ einen eher geringen Sadismus aufweisen. Daher verorten die sich weitgehend in der politischen Mitte, wobei sie zugleich ‚auch eine Tendenz, den Nationalsozialismus zu verharmlosen [aufweisen] und […] ihren Antisemitismus in der Umwegkommunikation preis[geben].‘
Bei den ‚autoritären‘ Syndromen finden sich die ‚Unterwürfigen‘ die ‚neu-rechte Funktionselite‘ und die ‚verschlossen Konventionellen‘ (zusammen 27,1 Prozent), die mit ihrem hohen Autoritarismuswerten, geringer Offenheit und überdurchschnittlichen Werten rechtsextremer Einstellungen dem autoritären Charakter entsprechen. Zu den ‚autoritären‘ Syndromen gehört darüber hinaus ein viertes, nämlich die ‚paranoiden Konformisten‘ (14,7 Prozent), die eher dem konventionellen Charakter entsprechen, da sich bein ihnen Antipluralismus und eine starke Orientierung an sozialen Erwartungen mit einer geringen Bereitschaft selbst Gewalt anzuwenden, verbinden – sie aber ‚begrüßen […], wenn andere Gewalt anwenden‘.
Auf der Basis dieser Reinterpretation der Befunde kann nun die ‚narzisstische Plombe‘ beziehungsweise das Umschlagen von narzisstischer Normal- zu autoritärer Krisenform in Einklang mit der gesellschaftlichen Charakterologie und ihren relativ statischen Charakteren gebracht werden: Narzisstische und autoritäre Charaktere existieren im zeitgenössischen Kapitalismus parallel zueinander; der konventionelle Charakter, gleichsam zwischen dem narzisstischen und dem autoritären, ist es, der im ‚Normalfall‘ unproblematisierten Integrationskraft von Kulturindustrie und Massenkonsum dem narzisstischen Charakter ähnelt und sich im ‚Krisenfall‘, in dem diese Integrationskraft abnimmt, an den autoritären Charakter anlehnt.“(Peter Schulz: Die Gleichzeitigkeit verschiedener Sozialcharaktere im zeitgenössischen Kapitalismus, in Konformistische Rebellen, Seite 288f)
Hervorzuheben sind die Artikel, die sich mit dem Aspekten der religös-motivierten Handlungen beschäftigen. „Stolz und Erhabenheit – Autorität im Zeitalter des Narzismus“ geht der Frage nach, warum Muslime und Konvertiten sich dem Projekt Islamischer Staat anschließen und dort unglaublich brutale Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben. „An Cuspers [Berlner Rapper Deso Dogg] Biographie wird ferner deutlich, dass die Gewaltförmigkeit des Islamismus und siene über Abenteuer- und Action-Ästhetik vermittelte Repräsentation in sozialen Medien aggressive und autoritäre Bedürfnisse wecken und bedienen, wie sie der narzistische Charakter in anderen Subkulturen nicht finden kann.“ schreiben die Autor:innen. „Der Islamwissenschaftler Oliver Roy bezeichnet Erweckungserlebnisse, die in den bekannten Biografien von Konvertiten beschrieben werden, als ‚Kult der eigenen Pesönlichkeit‘. Darin treffen sich die Selbstermächtigung eines mittlerweile ohnmächtig gewordenen Individuums, der negative Universalismus der islamischen Radikalen und das Gefühl, zur Elite – der sich in einer manchmal heimlichen , manchmal offenen Begeisterung für die islamische Barbarei und der Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand ausdrückt.“
Miriam Mettler geht im Artikel „Ehrkultur und Weiblichkeit“ der Frage nach der Rolle der Frau bei der Reproduktion der autoritären Persönlichkeit im Islam nach. Sie schreibt „Das islamische Modell der Gegenaufklärung geht hingegen aufs Ganze. Es ist deshalb so erfolgreich, weil es ihm gelingt, die eigenen antimodernen Ansichten hinter der Glaubens- und Religionsfreiheit zu verstecken und sich dort, wo dies gelingt, als Opfer westlicher Intoleranz zu gerieren. Der Islam definiert sich gerade über die Abwehr der Individualisierung im Subjekt selbst. Er ist die erfolgreichste und damit gewissermaßen auch modernste Form der Gegenmoderne.“
Das Kopftuch sei eine instututionalierte Täter-Opfer-Umkehr. Das Kinderkopftuch sei „ein so perfides Herrschaftsinstrument“. Es diene dazu Mädchen „an ihre untergeordnete Rolle und die Tabuisierung von Körperlichkeit und Sexualität zu gewöhnen, bevor es zu der Entwicklung der kognitiven Dissonanz“ komme. Hart ins Gerich geht die Autorin mit „Psyeudofeminist:innen indem denen sie vorwirft:
„Die Position, die diese selbsternannten Antirassisten im Streit um das Kopftuch einnehmen, ist aus diesem Grund besonders zynisch: Wird das blaming the victim zu Recht kritisiert, wenn es um Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung durch den ‚weißen Mann‘ geht, so wird im Falle von Verhüllungen bei Mussliminnen als Ausdruck einer beschützenswerten Kultur entschuldigt und schlimmstenfalls zum subversiven Protestakt verklärt. Der paternalistisch-wohlwollende Gestus verrät bereits den antirassistischen Rassismus, der den Frauen, die aus muslimischen Kulturen kommen, ihr Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt durch die Gesellschaft implizit abspricht. Derartigen Pseudofeministinnen fällt dabei nicht einmal auf, dass sie die Verantwortung für den eigenen Opferstatus denjenigen Frauen zuweisen, die sich weigern, ein Exemplar im Kulturzoo des Westens zu bleiben.“
Konformistische Rebellen: zur Aktualität des autoritären Charakters. Erste Auflage. Berlin: Verbrecher, 2020.